Das Tageblatt trifft den Autor und Theaterschaffenden Ian De Toffoli in einem Café auf Belval. Er kommt von der Universität Luxemburg, wo er noch vor wenigen Minuten eine Vorlesung hielt. Dort ist er externer Mitarbeiter im Master „Langue et littérature luxembourgeoise“. Um luxemburgische Literatur geht es auch nach dem Kurs, denn Ian De Toffoli spricht über sein Buch „Léa ou la théorie des systèmes complexes“, 2025 beim französischen Verlag Actes Sud erschienen.
Worum geht es?
„Léa ou la théorie des systèmes complexes“ von Ian De Toffoli untersucht die Verflechtungen zwischen der Erdölindustrie, ökonomischen Strukturen und dem Klimakampf. Einerseits skizziert der Autor die wahre Geschichte der Koch Industries, andererseits beschreibt er die Radikalisierung der fiktiven Luxemburgerin Léa. Die junge Frau fordert angesichts der Klimakrise ein radikales Umdenken. Die Präsenz von Koch Industries in Luxemburg entfacht ihre Wut auf das System, die sie zu einem Anschlag bewegt. Wie erzählt De Toffoli diese Geschichte? Anhand von Elementen aus Familiensagen, Dokumentarschriften, antikem Theater und Poesie. Eine gelungene Mischung, die dem Buch vonseiten des Tageblatt eine Bewertung von vier von fünf Buchdeckeln einbringt. Ein Kritikpunkt: Die Handlungsstränge verlaufen parallel und sind beide dicht und detailreich geschrieben – das erschwert stellenweise die Nachverfolgung beider Erzählungen.
Das Werk entstand im Rahmen des „Pipelines Project“ der European Theater Convention. 2021 erhielt Ian De Toffoli den Zuschuss. Die Aufgabe: ein Stück über die Bezüge zwischen dem eigenen Heimatland und der Erdölindustrie verfassen. 2023 brachten die „Théâtres de la ville de Luxembourg“ es auf die Bühne. Die Inszenierung übernahm Renelde Pierlot, die sich in ihren Arbeiten regelmäßig mit Klimafragen befasst.
Ähnlich wie die junge Léa also, Ian De Toffolis Hauptfigur. Ausschlaggebend für ihr Engagement ist u.a. die Zukunftsangst. „Que restera-t-il du monde?“, fragt sie ihre Mutter – und sich selbst – im Alter von zehn Jahren. „Dans ces années-là (…) une génération d’enfants intranquilles ne trouve pas le sommeil (…)/Ils connaissent (…) la cause de cette extinction. ‚C’est nous même‘.“ Sind wegen der Klimakrise beunruhigte junge Menschen noch Fiktion oder schon Realität?
Generationskonflikt
Nach der Youth Survey Luxembourg (2021) trifft letzteres zu: Dort gaben rund 70 Prozent der 12- bis 29-Jährigen an, sich vor den Konsequenzen der Umweltverschmutzung und des Klimawandels zu fürchten. Eine Umfrage des „Eurobarometer“ (2023) zeichnet ein ähnliches Bild, unabhängig vom Alter: 77 Prozent der EU-Bürger*innen bezeichnen den Klimawandel als ernstzunehmendes Problem. Gleichzeitig unterstützen Wahlberechtigte weltweit Klimaleugner wie den republikanischen US-Präsidenten Donald Trump oder rechte Parteien, die sich gegen strengere Auflagen zum Klimaschutz wehren. Junge, radikale Umweltbewegungen wie „Fridays for Future“ oder „Letzte Generation“ bieten dem Paroli und erfahren dafür teilweise Polizeigewalt. Paradoxe Entwicklungen, die sich teilweise als Generationskonflikt deuten lassen.
Der Gedanke findet sich in De Toffolis Werk wieder. Er konfrontiert Léa mit ihren Eltern und mit einem älteren Medienschaffenden. Mit ihrem differenzierten Artikel zur Klimakrise stößt sie bei ihrem Vater auf Desinteresse („Son père ne le lit pas“), erntet kurzes Lob der Mutter („C’est bien, ma chérie“) und Kritik des Editoren („On lui dit, qu’elle est peut-être allée un peu loin“). De Toffoli widmet das Buch noch dazu seinen Eltern, die er im Gegensatz zu Léas Erziehungsberechtigten als „umweltbewusst“ beschreibt. Sein Vater, Carlo De Toffoli, ist Mitglied von „déi gréng“. Er selbst sei von seinen Eltern für Umweltfragen sensibilisiert worden, so Ian De Toffoli. Warum stellt er die Klimakrise trotzdem als Generationskampf dar? „Weil sie das ist“, rechtfertigt der Autor die Entscheidung. „Der Konflikt besteht darin, dass frühere Generationen vom ständigen Wachstum profitierten, ohne Rücksicht auf ihre Nachfahren. Sie hinterlassen eine Welt in Trümmern und regen sich gleichzeitig über das ‚Gutmenschentum‘ der Jüngeren auf.“
Dominanz an allen Fronten
In „ Léa ou la théorie des systèmes complexes“ geht De Toffoli darüber hinaus. „Il n’y pas de hiérarchisation de l’exploitation“, heißt es an einer Stelle. „Il ne s’agit pas de mener des combats séparés sur plusieurs fronts.“ Sätze wie diese schreibt der Autor, weil er eine allumfassende Analyse für den einzigen Lösungsansatz hält. „Wir erleben überall Dominanzphänomene, ob es nun um die ethnische Herkunft, soziale Klasse oder Gender geht“, führt er den Gedanken weiter aus. „Wer sich dagegen wehrt, muss das an jeder Front tun.“
Er selbst zähle als „älterer, weißer Mann aus guten sozialen Verhältnissen“ zu den Privilegierten. Ähnlich verhalte es sich mit der Figur Léa, die ebenfalls aus gutem Hause kommt. „Wie gehe ich mit dieser Position um?“, fragt De Toffoli. „Was für eine Haltung nehme ich ein?“ Die Familie Koch, gegen dessen umweltvernichtendes Imperium Léa ankämpft, steht im Kontrast zur engagierten Protagonistin. De Toffoli bietet also zwei Antworten auf dieselben Fragen.
Frauensache?

Genauso versucht De Toffoli die Klimakrise aus weiblicher und männlicher Sicht zu beleuchten. Das offenbart allein die Zusammenstellung der Figuren: Léa steht der Familie Koch gegenüber, die vor allem aus toxischen und machtgeilen Männern besteht. „On fait porter aux femmes le fardeau de la crise climatique comme charge mentale supplémentaire“, schreibt De Toffoli außerdem. Er spielt auf die Eigenverantwortung der Bürger*innen im Kampf gegen die Klimakrise an und kritisiert die Werbeindustrie. „Es regt mich auf, wie oft sie auf Frauenfiguren für die Vermarktung von Reinigungs- und Haushaltsprodukten zurückgreift“, sagt er, „und ihnen damit mehr oder weniger unbewusst den Erhalt der Umwelt in die Schuhe schiebt.“ Das stärke sexistische Rollenverteilungen und erwecke zudem den Anschein, Frauen könnten die Welt mit dem Öko-Waschprogramm und der Mülltrennung vor der Klimakrise retten. „Dabei trägt die Industrie die größte Verantwortung“, so De Toffoli. 90 Prozent der weltweiten Wasserreserven gingen für die industrielle Agrikultur drauf. „Gesten im Privathaushalt sind wichtig, aber nicht ausschlaggebend“, schlussfolgert er.
Er bringt Verständnis für die damit einhergehende Politikverdrossenheit mancher Menschen auf. „Die Großkonzerne manipulieren die öffentliche Meinung. Sie lenken von sich selbst ab und drücken sich vor ihren Pflichten.“ Mit Erfolg. „Menschen, die sich für die Umwelt einsetzen, wird eine überzogene Achtsamkeit vorgeworfen“, beobachtet De Toffoli. „Es ist salonfähig, den Klimawandel öffentlich zu leugnen. Heute gilt er als Meinungsfrage.“
Umstände, die Léa zu einer radikalen Handlung bewegen. Dafür würde sie vermutlich als Umweltterroristin in die Geschichte eingehen und der Industriekonzern Koch als Leidtragender. Zurecht? De Toffoli zögert, gibt keine klare Antwort. Stattdessen spricht er über das Buch „How to blow up a pipeline“ von Andreas Malm. In dem Werk argumentiert Malm, die Sabotage der Konzerne sei die logische Konsequenz von Umweltbewegungen. Er kritisiert den Pazifismus innerhalb der Szene, wie es auch Léa in einer Passage tut. „Wie weit kann und muss der zivile Ungehorsam gehen?“, fragt De Toffoli sich selbst. „Für mich gibt es keine eindeutige Antwort. Klar ist: Wenn die Industrien weiter auf dem Status quo beharren, verschärfen sich die Handlungen der Aktivisten. Unfälle bleiben da nicht aus.“
Und was rät der Autor, angesichts der Klimakrise? De Toffoli lächelt, denn die Frage muss er nach Lesungen oft beantworten. „Mir ist es wichtig zu begreifen, wo wir stehen“, sagt er. „Wenn wir uns dessen nicht bewusst werden, können wir uns nicht wehren.“ Die Kunst helfe, Machtstrukturen offenzulegen, Fragen aufzuwerfen oder „sogar Lösungsvorschläge zu unterbreiten und im Rahmen der Fiktion auszuprobieren“. „Wenn ich ein politisches Buch schreibe, hoffe ich, dass es Spuren hinterlässt“, lautet einer seiner letzten Sätze des Gesprächs in Belval.
De Maart

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