Donnerstag6. November 2025

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ForumDer Westen steht nicht vor dem Untergang, arbeitet aber daran

Forum / Der Westen steht nicht vor dem Untergang, arbeitet aber daran
 Foto: AFP/Johannes Eisele

Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe aus Experten der politischen Mitte in Europa, dem globalen Süden und – nach Donald Trumps Wahlsieg auch in den Vereinigten Staaten – glaubt, der Westen sei im Niedergang begriffen. Sicherlich war im Westen noch nie so viel Macht in den Händen so weniger Menschen (und geografischer Gebiete) konzentriert, aber bedeutet das allein schon, dass die Macht des Westens dem Untergang geweiht ist?

In Europa gibt es gute Gründe, sich der Erzählung vom Niedergang anzuschließen. Ebenso wie einst das Römische Reich Rom den Barbaren überließ und seine Hauptstadt nach Konstantinopel verlegte, um seine Hegemonie um ein weiteres Jahrtausend zu verlängern, verlagerte sich der Schwerpunkt des Westens in die Vereinigten Staaten, wodurch Großbritannien und Europa der Stagnation preisgegeben wurden, die sie träge, rückständig und zunehmend irrelevant werden lässt.

Doch es besteht ein noch tiefer liegender Grund für die düstere Stimmung der Experten: nämlich die Tendenz, das nachlassende Engagement des Westens für sein eigenes Wertesystem (universelle Menschenrechte, Vielfalt und Offenheit) mit dem Niedergang des Westens zu verwechseln. Wie eine Schlange, die ihre alte Haut abstreift, gewinnt der Westen an Macht, indem er ein Wertesystem ablegt, das seine Vormachtstellung im 20. Jahrhundert stützte, diesem Ziel im 21. Jahrhundert jedoch nicht mehr dient.

Demokratie war nie eine Voraussetzung für den Aufstieg des Kapitalismus, und was wir heute als das Wertesystem des Westens betrachten, ist auch keine Voraussetzung dafür. Die Macht des Westens gründete nicht auf humanistischen Prinzipien, sondern auf brutaler Ausbeutung in eigenen Landen, verbunden mit Sklavenhandel, Opiumhandel und verschiedenen Völkermorden in Amerika, Afrika und Australien.

Völker unterwerfen und Ressourcen gewinnen

Während ihrer Blütezeit blieb westliche Macht außerhalb ihrer Landesgrenzen unbeschränkt. Europa schickte Millionen von Kolonisten aus, um Völker zu unterwerfen und Ressourcen zu gewinnen. Die Europäer taten so, als seien die Ureinwohner, denen sie begegneten, keine Menschen, und erklärten ihr Land zur terra nullius, zu einem Niemandsland, das von Siedlern, die dieses Land begehrten, auch besiedelt werden konnte – der erste Akt jedes Völkermords von Amerika, Afrika und Australien bis ins heutige Palästina.

Doch obwohl im Ausland unangreifbar, wurde diese westliche Macht auf eigenem Territorium von ihren verelendeten Unterschichten herausgefordert, die sich als Reaktion auf Wirtschaftskrisen zum Aufstand erhoben. Verursacht wurden diese Krisen durch die fehlende Möglichkeit der breiten Masse, ausreichend von den Gütern zu konsumieren, die in den Fabriken der wenigen Reichen produziert wurden. Diese Konflikte mündeten in Kriege industriellen Maßstabs zwischen den um Märkte konkurrierenden westlichen Mächten und gipfelten schließlich in zwei Weltkriegen.

Dies hatte zur Folge, dass die Eliten des Westens Zugeständnisse machen mussten. Im nationalen Rahmen akzeptierten sie öffentliche Bildung, Gesundheitssysteme und Altersrenten. Auf internationaler Ebene führte die Empörung über die grausamen Kriege und Völkermorde des Westens zur Entkolonialisierung, zu allgemeinen Erklärungen der Menschenrechte und zu internationalen Strafgerichten.

Überschüsse transferiert

Nach dem Zweiten Weltkrieg sonnte sich der Westen für ein paar Jahrzehnte im warmen Licht der Verteilungsgerechtigkeit, der Mischwirtschaft, der Vielfalt, der Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land und einer regelbasierten internationalen Ordnung. Wirtschaftlich wurden diese Werte durch das als Bretton Woods bekannte, zentral geplante und von den USA konzipierte globale Währungssystem außerordentlich gut bedient. Dieses System ermöglichte es Amerika, seine Überschüsse nach Europa und Japan zu transferieren und im Wesentlichen seine Verbündeten zu dollarisieren, um seine eigenen Nettoexporte abzusichern.

Doch bis zum Jahr 1971 war Amerika zu einem Defizitland geworden. Anstatt den Gürtel im nach deutschem Vorbild enger zu schnallen, sprengten die USA Bretton Woods und ließen ihr Handelsdefizit explodieren. Deutschland, Japan und später auch China wurden zu Nettoexporteuren, deren Dollar-Profite an die Wall Street geschickt wurden, um US-Staatsanleihen, Immobilien und Unternehmensanteile zu kaufen, deren Erwerb die USA Ausländern gestatteten.

Geburt des Neoliberalismus

Eines Tages kam der amerikanischen herrschenden Klasse die Erleuchtung: Wozu Dinge daheim herstellen, wenn man sich darauf verlassen konnte, dass ausländische Kapitalisten sowohl ihre Erzeugnisse als auch ihre Dollars in die USA schickten? Also wurden ganze Produktionslinien ins Ausland exportiert, wodurch die Deindustrialisierung der amerikanischen Produktionszentren in Gang gesetzt wurde.

Die Wall Street stand im Zentrum dieses dreisten neuen Recyclingmechanismus. Um ihrer Rolle gerecht zu werden, musste sie uneingeschränkt agieren können. Allerdings brauchte es für die umfassende Deregulierung die Unterlage einer wirtschaftlichen und politischen Philosophie. Die Nachfrage schuf ihr eigenes Angebot, und der Neoliberalismus war geboren. Es dauerte nicht lange, bis die Welt in Derivaten ertrank, die auf dem Tsunami aus ausländischem Kapital surften, der die Banken in New York überschwemmte. Als die Welle 2008 brach, ging der Westen fast mit ihr unter.

In Panik geratene westliche Entscheidungsträger genehmigten den Druck von 35 Billionen US-Dollar, um die Finanziers über Wasser zu halten, während sie ihren Bevölkerungen Sparmaßnahmen auferlegten. Der einzige Teil dieser Billionen, der tatsächlich in Produktionsmittel investiert wurde, floss in den Aufbau des Cloud-Kapitals, das Big Tech seine allgegenwärtige Macht über die Herzen und Köpfe der westlichen Bevölkerung verschaffte.

Die Kombination aus Sozialismus für Finanziers, immer schlechteren Aussichten für die unteren 50 Prozent und der Auslieferung unseres Geistes an das Cloud-Kapital von Big Tech hat einen schönen neuen Westen hervorgebracht, dessen überhebliche Eliten für das Wertesystem des letzten Jahrhunderts wenig übrig haben. Freihandel, Kartellrecht, Netto-Null, Demokratie, Offenheit für Migration, Vielfalt, Menschenrechte und der Internationale Gerichtshof wurden mit der gleichen Verachtung behandelt, mit der die USA befreundete Diktatoren – ihre „eigenen Bastarde“ – behandelten, nachdem diese nicht mehr von Nutzen waren.

China als tödliche Bedrohung?

Angesichts der Machtlosigkeit Europas aufgrund seiner Unfähigkeit, die politische Macht ebenso in einer Föderation zusammenzuführen, wie das Geld und aufgrund der Tatsache, dass die Entwicklungsländer stärker verschuldet sind als je zuvor, steht dem Westen nur noch China im Weg. Die Ironie dabei ist jedoch, dass China kein Hegemon sein will, sondern lediglich ungehindert seine Waren verkaufen möchte.

Doch der Westen ist mittlerweile überzeugt, dass China eine tödliche Bedrohung darstellt. Wie Ödipus’ Vater, der durch die Hand seines Sohnes starb, weil er der Prophezeiung glaubte, dass sein Sohn ihn töten würde, arbeitet der Westen unermüdlich daran, China dazu zu drängen, den Sprung zu wagen und die westliche Macht ernsthaft herauszufordern, beispielsweise indem die Brics in ein Renminbi-basiertes Bretton-Woods-ähnliches System umgewandelt werden.

Im Jahr 2024 erstarkte der Westen weiter. Doch angesichts seines darniederliegenden Wertesystems verstärkte sich auch der Hang, an seinem Untergang zu arbeiten.

 Foto: Thanassis Stavrakis/AP/dpa

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.

Yanis Varoufakis ist ehemaliger griechischer Finanzminister, Vorsitzender der Partei MeRA25 und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen.

Copyright: Project Syndicate, 2024

www.project-syndicate.org

fraulein smilla
23. Dezember 2024 - 8.29

Der Westen ist eine Zivilisation dessen Quintessenz die Magna Charta ist , dessen Schwerpunkt mal an der Wurm ( Achen ) lag ,lange an der Themse und heute am Hudson und am Potomac liegt .
Hitler hat ohne Zweifel den Westen gepraegt , aber Gott sei Dank nicht in seinem Sinne , und Marx gehoert auch fuer " westler " zur westlichen Zivilisation . Russland gehoert nicht zum " Westen "weil die Bruchlinie zwischen dem katholischen Europa und dem orthodoxen Europa liegt. Vielleicht mal wieder -Kampf der Kulturen von Samuel Huntington lesen .

RCZ
23. Dezember 2024 - 8.04

Zuerst wird der Osten des Westens ausgelöscht und zum Niemandsland werden! Es braucht dazu nicht einmal 24 Stunden.

Luxmann
22. Dezember 2024 - 16.25

Interessanter artikel wie meist von Varoufakis.
Der begriff westen ist allerdings auch etwas mit dem ich nicht viel und eigentlich gar nichts anfangen kann und den man "sous toutes les sauces" verkaufen kann und das auch tut.
2 deutsche welche den westen in den 2 vergangenen jahrhunderten wesentlich gepraegt haben...Karl Marx und Adolf Hitler...werden heute von wielen die sich westler nennen oder gern von westlichen werten schwafeln als schlimmste antiwestler beschrieben.
Ohne logik im grunde.
Uebrigens sind Trump und Musk auch westler mit wurzeln in europa ...genau wie Putin.

Dunord Hagar
22. Dezember 2024 - 11.18

Besonders der Osten des Westens arbeitet stark dran!