Die Sonne drückt. Das T-Shirt klebt am verschwitzten Rücken. Im botanischen Garten der Villa Cipressi am Comer See herrscht Stau. Warum? Wir befinden uns wenige Schritte von einem beliebten Selfie-Spot entfernt – ein zum Gewässer hin geöffnetes Tor. Klingt unspektakulär, sorgt auf Instagram unter #villacipressi aber für zigtausende Beiträge. Ob die Selfie-Junkies die Villa nur deswegen besuchen, ist schwer zu sagen. Die Autorin dieser Zeilen war jedenfalls an den Pflanzen interessiert. Wirklich.
Allgemein beeinflusst das Rennen um das beliebteste Urlaubsfoto auf Social Media das Reiseverhalten und den Tourismussektor. Das dokumentieren auch Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in ihrem Buch „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“. Wer’s nicht glaubt, hier gibt’s Zahlen: „40 Prozent aller Reisenden unter 33 Jahren (…) wählen ihr Urlaubsziel danach aus, ob sich dort schöne Fotos für die sozialen Netzwerke knipsen lassen.“ So entstehen Selfie-Hotspots, zu denen Reisende in Scharen pilgern. Bekannte Instagram-Persönlichkeiten (Influencer*innen) dienen der Reisebranche längst als Werbemittel. Manche Tourismuszentren und Hotels bieten laut Nymoen und Schmitt „Zimmer, Pools oder Landschaften“ an, die „instagrammable sind“.
„Na und?“, schießt es jetzt wohl einigen durch den Kopf. Ja, die Menschheit kämpft mit schwerwiegenderen Problemen als Selfie-wütigen Personen. So nebensächlich ist die Sache jedoch nicht, zumal sie einiges über die Macht sozialer Medien aussagt. Im Stau in der Villa Cipressi verhärtet sich der Eindruck: Wichtig ist nicht das Erlebnis, sondern der Post auf Social Media. Wen jucken jahrhundertealte Gewächse, wenn man mit einem Klick Teil eines Instagram-Trends sein kann?
Social-Media-Mogule wie Mark Zuckerberg (Meta) und Elon Musk (X) reiben sich die Hände. Sie zehren vom Content ihrer Nutzer*innen, die für den virtuellen Applaus einer Horde Unbekannter bereitwillig Grenzen überschreiten. Nach Medienberichten gefährden Influencer*innen und ihre Fans zunehmend sensible Ökosysteme, fördern den Massentourismus und begeben sich in Lebensgefahr. Das Journal of Travel Medicine zitierte 2022 eine Studie, die besagt: Zwischen 2008 und 2021 starben weltweit 379 Menschen beim Selfie-Versuch. 37 Prozent davon waren Touris. Stürze aus der Höhe machten fast die Hälfte aller Todesfälle aus; das Durchschnittsalter lag bei 24 Jahren. Nach Euronews ordnen Forschende der University of New South Wales in Sydney die „Aufnahme riskanter Selfies“ deshalb als „ein Problem der öffentlichen Gesundheit“ ein.
Manche Stadtverwaltungen und Länder reagieren mit Selfie-Verbotszonen und Warnschildern. Nun lassen sich Verbote umgehen und die sozialen Medien sich nicht einfach wegschnipsen. Konstruktiver scheinen deswegen Richtlinien wie die des Leave No Trace Center for Outdoor Ethics. Das Team appelliert an das Verantwortungsbewusstsein der Reisenden und fordert sie auf, Hashtags und Motive vor der Veröffentlichung zu überdenken. Ein Knigge für Selfies, wenn man so will. Vor dem nächsten Sprung in den Pool noch ein radikaler Vorschlag: Wie wäre es mit einer Sommerpause von Social Media? Eine handgeschriebene Postkarte hat ohnehin mehr Charme als die Bilderflut auf Instagram und Co. #digitaldetox
De Maart

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