Der schmale Grat zwischen Besatzern und Befreiern

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„Dummeldeng am Krich“ hieß ein Rundgang, der diesen Sommer mehrere Male von „Guide for one day“ organisiert wurde. Das Besondere an dem Konzept: Ein Zeitzeuge erzählte den Teilnehmern von seinen Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges.

Auf der Flucht vor den alliierten Streitkräften sprengten die Nazis am 10. September 1944 die Brücke, die in Dommeldingen über die Alzette führt. Tote waren damals keine zu beklagen, doch viele der angrenzenden Gebäude wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Viele Menschen verloren damals ihr Zuhause.

Die Schäden von damals wurden schon vor sehr langer Zeit beseitigt. Heute lädt der Dorfkern mit seinen schön renovierten Häusern rund um den Bahnhof zum Verweilen ein. Um diese dramatischen Ereignisse noch einmal Revue passieren zu lassen, bleibt einem heute nur noch der Gang in die Archive oder man unterhält sich mit einem Zeitzeugen.
Gut, dass sich ein solcher Zeitzeuge für das Projekt angemeldet hatte und einen Rundgang unter dem Motto „Dummeldeng am Krich“ anbot. Bei „Guide for one day“ bieten Privatpersonen aus allen sozialen Schichten einen persönlichen Einblick in das, was ihnen wichtig ist. Eine Konkurrenz zu den ausgebildeten „guides“ wollen sie jedoch nicht darstellen. Sie nehmen eine ergänzende Rolle ein.

Der 86-jährige Marcel Hilbert, der sich auf Drängen seiner Schwiegertochter bei „Guide for a day“ angemeldet hat, war im Spätsommer 1944 zwölf Jahre alt und wohnte rund 90 Meter von der Brücke in Dommeldingen entfernt. Sein Rundgang am Donnerstag führte vom Bahnhof zur Kirche bis zum Bahnübergang über die Brücke in der Nähe des Klinikums bis zu seinem Elternhaus.

Trotz seines stattlichen Alters und der Tatsache, das Hilbert nach eigenen Aussagen Schmerzen am rechten Fuß hat, ist er sehr gut auf den Beinen. Beim ersten Treffen auf dem Parkplatz des Bahnhofs wirkt er sehr offen und freundlich. Er redet ununterbrochen und kann zu jedem Meter etwas erzählen. Nicht verwunderlich, dass die wenigen, aber interessierten Gäste des Rundgangs die ganze Zeit an seinen Lippen hängen.

Zu Beginn erzählt Marcel Hilbert noch kurz von seinem bevorstehenden Urlaub, bevor die Geschichtsstunde beginnen kann. „Ein paar Tage nach meiner Geburt im Jahr 1932 bin ich in das Haus dort gegenüber, 3 in der rue de Beggen, eingezogen. Dort habe ich gelebt, bis wir 1944 umziehen mussten. Damals war ich zwölf.“

Als Kind habe er am liebsten im Apfelbaum seiner Eltern gesessen und gesungen. Er sei auch viel mit dem Tretroller unterwegs gewesen. Ein Fahrrad habe er nie besessen. „Unter den Nazis wurden alle Vereine verboten. Sogar die ‚Scouten‘ und der Kirchenchor. Während der Kriegsjahre habe ich dennoch weiter Messen gesungen. Sofort nach dem Krieg bin ich auch wieder den ‚Scouten‘ beigetreten“, erläutert der 86-Jährige auf dem Weg zur Kirche.
„Den Dommeldinger Stadtkern und die Häuser entlang der Schienen, in Richtung Walferdingen, haben wir früher „de beschassene Waggon‘ genannt. Hier standen die Häuser so nah hintereinander, dass man bei den Nachbarn in die Wohnung schauen konnte. Was glauben Sie, was da getratscht, also ‚beschass‘, wurde! Der Eisenbahnwaggon wurde wegen der Nähe zu den Schienen hinzugefügt“, erzählt Marcel Hilbert grinsend.

In der Kirche, die an diesem Tag auf sein Bitten hin nicht geschlossen ist, lädt der Zeitzeuge die Rundgangteilnehmer ein, kurz Platz zu nehmen. „Am 10. Mai 1940, als Luxemburg von den Nazis überfallen wurde, habe ich die deutschen Truppen an unserem Haus vorbeimarschieren gesehen. Mein Vater, der in der nahe gelegenen Zementfabrik arbeitete, wurde an diesem Tag früher von den Besatzern nach Hause geschickt“, so Marcel Hilbert, der seinen französischen Namen eindeutschen musste und unter der Nazibesatzung in Marcelus umgenannt wurde.

„Am 9. September war ich mit einem Freund unterwegs, um Mehl zu besorgen. Mein Vater kam uns entgegen und bat uns, schnell nach Hause zu kommen, denn die Nazis würden die Brücke in Dommeldingen in die Luft sprengen“, erinnert sich Hilbert. „Die Brücke wurde am 10. September gegen Mittag in die Luft gesprengt. Diesen Fluchtweg hielten die Nazis für Nachzügler frei. Von intakten Kompagnien konnte zu diesem Zeitpunkt keine Rede mehr sein. Ich habe gesehen, wie Soldaten einer Frau ein Fahrrad gestohlen haben, um schneller wegzukommen. Die Nacht zum 10. September haben wir bei Freunden in der Nähe des Boulevard d’Avranches verbracht. Als wir dort sonntagmorgens aufbrachen, war keine Menschenseele auf den Straßen.

Doch plötzlich hörten wir Musik und stießen auf eine riesige Menschentraube. Mitten unter den jubelnden Menschen stand ein amerikanischer Militärjeep. Die Insassen konnte ich ganz klar erkennen. Es handelte sich um Prinz Felix und Prinz Jean. Nach einer Weile kämpften meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, meine Schwester und ich uns durch die Menschenmassen und setzten unseren Weg fort, um nach Hause zu gelangen.

Als wir die place d’Eich erreichten, kreuzte uns ein Motorrad mit zwei deutschen Soldaten. In der Oberstadt haben die Amerikaner gefeiert und im Tal patrouillierten noch Nazis.  Sie haben uns nicht beachtet, dennoch rutschte uns das Herz in die Hose. Mein Bruder war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt und hatte für den 1. September einen Stellungsbefehl erhalten, der seine Zwangsrekrutierung besiegeln sollte. Ein befreundeter Arzt konnte das jedoch verhindern. In diesem Moment haben wir nur gehofft, dass die Nazis nichts von dem Stellungsbefehl von meinem Bruder wussten. Die Explosion der Brücke haben wir nur gehört.“

An der Stelle, wo früher die Brücke über die Alzette führte, bleibt Hilbert stehen und zeigt Fotos, die das Ausmaß der Zerstörung verdeutlichen und nur wenige Stunden nach der Sprengung geschossen wurden. „Meine Eltern hatten damals keinen Fotoapparat. Die Fotos habe ich aus der hauptstädtischen Fotothek.“ Auf den Bildern kann man die Sprengkraft der Explosion erkennen. Mehrere Häuser wurden komplett abgedeckt. Fast alle Fensterscheiben im Umkreis waren zu Bruch gegangen. „Das Dach von meinem Elternhaus war in die Luft geflogen. Das Haus war unbewohnbar. Wir sind dann nach Bereldingen gezogen“, so Hilbert abschließend.