Wahlsonntag in Russland„Der letzte dünne Faden, bevor ab morgen neue Repressionen kommen“

Wahlsonntag in Russland / „Der letzte dünne Faden, bevor ab morgen neue Repressionen kommen“
Am Sonntag vor der russischen Botschaft in Luxemburg: Die weiß-blau-weiße Flagge symbolisiert den Protest gegen den russischen Überfall auf die Ukraine. Die rote Farbe, die mit Krieg und Blut verbunden wird, ist durch ein friedliches Weiß ersetzt worden. Foto: Editpress/Didier Sylvestre

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Aus Protest gegen die Schein-Wahl in Russland reihten sich Tausende von Menschen quer durchs Land in Schlangen vor Wahllokalen ein. Sie stimmen gegen Wladimir Putin. Doch der alte Präsident dürfte auch der neue sein.

Die Menschen schleichen umher, schauen sich vorsichtig um und reihen sich in die Schlange an der Schule „Admiral Kusnezow“ im Westen Moskaus ein. Es ist Punkt 12 Uhr mittags in Moskau, Tag drei der Wahl eines Präsidenten in Russland, die keine Wahl zulässt und am Ende des Tages pompös den Sieger verkünden wird: Wladimir Putin, wieder zu dem gemacht, der er auch schon die vergangenen zwölf Jahre war.

Unter dem Motto „Mittags gegen Putin“ hat sich auch hierzulande eine Menschenmenge eingefunden 
Unter dem Motto „Mittags gegen Putin“ hat sich auch hierzulande eine Menschenmenge eingefunden  Foto: Editpress/Didier Sylvestre

Weder frei noch fair ist diese Wahl. Die Abstimmung ist eine perfekt inszenierte Legitimierungsmaßnahme der bestehenden Verhältnisse. Das Staatsfernsehen zeigt Menschen, die „zusammenstehen gegen den Westen“, „Patrioten unseres Landes“ eben, sagt der Moderator. Die Zentrale Wahlkommission vermeldet bereits am Sonntagmorgen eine Wahlbeteiligung von mehr als 60 Prozent, auf Tschukotka im äußersten Osten des Landes liegt sie da bereits bei 80 Prozent, genauso hoch, wie vom Kreml vor einem halben Jahr herausgegeben. Ähnlich hoch sollen die Zahlen in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten sein, in denen niemand überprüfen kann, was an den Wahlurnen abläuft.

Der Druck ist überall hoch. Staatsangestellten werden Prämien geboten, um zur Wahl zu gehen, und damit gedroht, sie würden ihre Stelle verlieren, wenn sie nicht „für den Richtigen“ stimmten. Soldaten, Ärztinnen, Lehrerinnen, Ministeriumsmitarbeiter treten zuweilen geschlossen an die Urne. Manche müssen einen Screenshot ihrer elektronischen Abstimmung an ihren Chef schicken. Viele tun das, um keinen Ärger zu haben. „Ist doch eh schon alles entschieden im Kreml, auf meine Stimme kommt es nicht an“, sagen die Menschen dann.

Auch jeder, der sich um 12 Uhr in die Schlange am roten Backsteingebäude unweit des Moskauer Ukrainski-Boulevards stellt, Familien mit Kinderwagen, ältere Frauen und jüngere Männer, wissen um den Umstand, dass diese Abstimmung die am stärksten manipulierte Wahl in den vergangenen 30 Jahren ist. Sie wissen, dass der Kreml keinen Wert auf ihre Unzufriedenheit legt und sie als Verräter und Extremist betrachtet. Und doch kommen sie, stehen hier, wie auch vor anderen Wahllokalen des Landes, um genau das zu demonstrieren: ihr Nicht-Einverstandensein mit der Politik ihres Landes. „Mittags gegen Putin“ hatten verschiedene oppositionelle Kräfte die Aktion genannt, damit die Machthaber anhand der Schlangen um eine bestimmte Zeit sehen, dass das Land nicht so geschlossen ist, wie sie es in ihren Propaganda-Sendungen weiszumachen versuchen.

„Ich stimme doch nicht für einen Mörder“

Etwa 100 Menschen stehen am Wahllokal 2567 an. „Ich stimme doch nicht für einen Mörder“, sagt Andrej, 43. Er hatte am Tag zuvor eine SMS der Behörden bekommen, nicht an der Aktion teilzunehmen. Denn diese weise „Anzeichen extremistischer Aktivitäten“ auf, so sieht es der Staat. Andrej und seine Frau haben trotz Einschüchterung bewusst die Entscheidung getroffen, zu kommen. „Es ist ein Flashmob, eine leichte Variante einer politischen Aktion, wohl der letzte dünne Faden, an dem wir uns heute noch festhalten können. Ab morgen wird es schlimmer, die Repressionen werden zunehmen. Und wer weiß, was diesem Irren im Kreml noch alles einfallen wird“, sagt der Moskauer leise.

Alexandra, schon weiter vorgerückt, sagt: „Ich bin gekommen, um mich nicht allein zu fühlen. Jeder, der hier ansteht, teilt im Großen und Ganzen meine Werte und Überzeugungen. Es gibt in unserem Land kaum mehr Orte, an denen sich Kritiker des Systems finden dürfen. Das hier ist eine seltene, legale Möglichkeit.“ Natürlich werde sie sich am Abend ärgern, wenn sie „die gemalten Resultate dieses Zirkusses“, wie sie die Wahl bezeichnet, sehen werde, sie werde wohl auch weinen, „weil ich verstehe, was unsere Diktatur für uns noch parat hält“. „Aber hier kann ich Mensch sein, ich kann andere Menschen umarmen und sehen, dass wir gar nicht so wenige sind.“

Die fünf Polizisten, die die Wartenden in kleinen Gruppen ins Wahllokal lassen, wirken nervös, fast alle telefonieren herum. Die Aktion ist auch eine Art soziologisches Experiment, der Kreml wird – trotz aller Beschönigung – die Lage, gerade auch der Unzufriedenen, genau verfolgen. Mag er an seiner menschenverachtenden Politik, sowohl in der Ukraine als auch im eigenen Land, auch nichts ändern.

Die ersten Festnahmen gibt es bereits um kurz nach Sonntagmittag, an den zwei Tagen zuvor war es ebenfalls zu Zwischenfällen gekommen, weil einige Frauen – die Zentralkommission bezeichnete sie als „Beschränkte“ und „Verräterinnen“ – Farbe in die Wahlurnen gegossen oder Wahlkabinen angezündet hatten. Ihnen drohen nun bis zu fünf Jahre Haft.

Währenddessen tanzen im Moskauer Gorki-Park Hunderte von Menschen ausgelassen zur lauten Musik, sie spielen das Spiel, wer den Stiefel am weitesten werfen kann, und lachen am Bliny-Stand, der die runden russischen Pfannkuchen verkauft. Die Butterwoche namens „Maleniza“ geht an diesem Sonntag zu Ende. „Ich bin hier, um zu feiern, nicht um ans Morgen zu denken“, sagt eine Frau. Doch das Morgen ist schon da. Noch gehässiger und verhärteter als es das die vergangenen Jahre war.