KarriererückblickDer Glanz der Bilder, die Vorhänge der Welt: das Kino von Michael Mann

Karriererückblick / Der Glanz der Bilder, die Vorhänge der Welt: das Kino von Michael Mann
Nur ansatzweise ein Sportfilm: Regisseur Michael Mann (links) und Schauspieler Adam Driver bei der Premiere von „Ferrari“ Foto: AFP/ Gabriel Bouys

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Filmautor, Stilist, Genrefilmer – viele Begriffe wurden für den amerikanischen Regisseur Michael Mann im Laufe seiner Karriere bereits verwendet. Nachdem sein Kinofilm „Blackhat“ 2015 kommerziell scheiterte, wurde es zunächst still um den mittlerweile einundachtzigjährigen Filmemacher, bevor er 2022 mit der Pilotfolge zur Fernsehserie „Tokyo Vice“ zunächst auf den kleinen Bildschirm zurückkehrte und mit „Heat 2“ im selben Jahr gemeinsam mit Meg Gardiner seinen ersten Roman veröffentlichte. Mit „Ferrari“, der im Hauptwettbewerb der 80. Filmfestspiele von Venedig seine Premiere feierte, war seine Rückkehr zum Film und – zumindest partiell – zur Kinoleinwand 2023 eingeläutet. Ein Karriererückblick.

Zunächst begleitet diesen Filmemacher auf biographischem Plan ein äußerst augenfälliges Paradox: Mann ist ein Filmemacher, der, generationell betrachtet, der New Hollywood-Bewegung angehören müsste, seinen ersten Film „Thief“ aber erst 1981 in die Kinos brachte – just als Michael Ciminos immenser Misserfolg „Heaven’s Gate“ diese Erneuerungsströmung ein Jahr zuvor definitiv beendet hatte. Es sollte das Paradox sein, das Mann beständig begleiten und der Quell vieler Missverständnisse sein wird: nicht zuzuordnen zu sein, sich festen Formen und Denkmustern zu entziehen, sich entweder zu spät oder zu früh mit seinen Werken zu manifestieren.

Mit „Thief“ war die Filmästhetik Manns im Wesentlichen begründet: In den regennassen Straßen Chicagos bewegt sich der unscheinbare Frank (James Caan), ein professioneller Meisterdieb. Zu kalt-desolaten Synthesizer-Klängen und neongetränkten Leuchtreklamen beobachten wir ein hocheffizient agierendes Individuum, dessen Professionalität auch Ausdruck seiner Einsamkeit ist. „The Keep“, eine Hommage Manns an den deutschen Expressionismus der Weimarer Jahre – „Faust“ von F.W. Murnau oder noch „Die freudlose Gasse“ von Pabst zählen zu seinen prägendsten filmischen Erinnerungen, die ihn dazu bewogen, Filmemacher zu werden – war Manns Folgeprojekt. Eine formalästhetische Virtuosität ist da spürbar, der unbedingte Wille zur äußeren Formgebung, doch der ausbleibende Erfolg an den Kinokassen 1983 ließ Mann zunächst wieder in der Fernsehwelt Fuß fassen. Es war mit „Thief“ bereits augenscheinlich, dass Mann zum maßgeblichen Begründer der amerikanischen Filmästhetik der Achtzigerjahre avancieren sollte, mit dem folgenden Serienprojekt bestand an diesem Umstand kein Zweifel mehr: „Miami Vice“ (1984-1989).

Subversive Metareflexion

Für die Ästhetik dieser pastellfarbenen Welt, den Glanz alles Materiellen, die Luxusyachten und Sportwagen, zeichnete hauptsächlich Michael Mann als ausführender Produzent verantwortlich. Es war eine derart formbetonte Welt der Oberflächlichkeiten, auch als Spiegel alles Exzessiven der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Reagan-Ära, dass heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass eigentlich Anthony Yerkovich die Serie konzipierte. Nun spätestens war der Vorwurf formuliert, der Mann immerzu begleiten sollte: Die Form überwiege den Inhalt. Ein großes Missverständnis. Zwischen den Serienjahren erfolgte ein erneuter Wechsel zum Film: „Manhunter“ (1984) trägt die deutlichen Züge der Serienästhetik – Mann bettet sie aber geschickt in eine ganz subversive Metareflexion von ungeahnter Sinnlichkeit über die Schaulust, basiert der Film doch auf der Romanvorlage „Red Dragon“ von Richard Harris über einen psychopathischen Serienmörder und die doppelgängerische Beziehung des ermittelnden Profilers Will Graham (William Petersen) zu diesem.

Zu dieser inhaltlich kohärenten filmischen Vision hat Mann dank der Zusammenarbeit mit seinem Kameramann Dante Spinotti einen visuellen Stil kultiviert, der für seine Filmsprache entscheidend ist: Tiefes Blau, grelles Grün, tristes Grau – immer wieder signalisiert die Farbpalette entsprechend das Intimistische, die Gefahr, das Apathische alles Institutionellen.

Der Zenit

Mit „The Last of the Mohicans“ (1992) erlangte Mann die nötige Aufmerksamkeit, um sich definitiv innerhalb der groß budgetierten Filmproduktionen seinen Platz zu sichern. Die Adaption von James Fenimore Coopers Roman entwickelte sich unter der Starbesetzung mit Daniel Day-Lewis zu einem großen Erfolg. Der Film ebnete Mann den Weg, ein lang gehegtes Wunschprojekt anzugehen, es sollte der vorläufige Höhepunkt seiner Karriere sein: Heute erscheint es befremdlicher, wie sehr „Heat“ bei seinem Erscheinen 1995 doch über das Zusammentreffen der beiden Schauspielgrößen Al Pacino und Robert De Niro vermarktet wurde, weniger über den Namen Michael Manns als Filmautor.

Ein Karrierehöhepunkt: „The Last of the Mohicans“ mit Daniel Day-Lewis aus dem Jahr 1992
Ein Karrierehöhepunkt: „The Last of the Mohicans“ mit Daniel Day-Lewis aus dem Jahr 1992 Foto: 20th Century-Fox Film Corporation

In diesem Film liefern sich Pacino als Vincent Hanna, ein L.A. Police Detective, und Robert De Niro als Neil McCauley, ein Profigangster, ein Duell auf Augenhöhe – die tiefe Verbundenheit zwischen Ermittler und Verbrecher aufschlüsselnd, ein zentrales Thema bei Mann. Unter dieser Krimigeschichte ist „Heat“ ein oft missverstandenes „männliches Melodrama“ in einer Zeit der allumfassenden Entfremdung, in der Ware, Information und letztlich der Mensch, einer Aktie am Börsenmarkt nicht unähnlich, handelbar und austauschbar geworden sind. Ja, Mann ist im amerikanischen Mainstream-Kino der einzig wahre Nachfahre von Michelangelo Antonioni. Mit „Heat“ war ein Zenit erreicht, der Film markierte sowohl den Höhe- als auch den Endpunkt eines Filmgenres, das in Frankreich unter der Bezeichnung des „polar“ eine lange Tradition hat. „Heat“ ist mehr noch eine Erkundung menschlicher Einsamkeit. Der kalte französische Kriminalfilm der Fünfzigerjahre ist Mann eine wichtige Bezugsquelle – „Le Samouraï“ (1967) von Jean-Pierre Melville ist in dieser Hinsicht überaus bedeutsam.

Aber wie sich noch einmal über sich selbst erheben, wenn einem Mitte der Neunzigerjahre bereits alles gelungen ist? Alles noch einmal übertreffen? Größer die Bilder, immenser die Schauwerte? Mann geht den umgekehrten Weg und legt mit „The Insider“ (1999) einen Film eindringlichster Demut und Zurückhaltung vor: Erzählt wird von einer Reportage des Nachrichtenmagazins 60 Minutes über Jeffrey Wigand (Russell Crowe), einen Whistleblower in der Tabakindustrie. Ihm zur Seite steht der Journalist und Nachrichtenproduzent Lowell Bergman (Al Pacino), der Wigand gegen die Versuche der Unterdrückung und Diskreditierung durch dessen ehemaligen Arbeitgeber verteidigt. Mann diente der 1996 im Vanity Fair-Magazin erschienene Artikel „The Man Who Knew Too Much“ als Grundlage.

Er schöpft aus dem wahren Leben, um daraus einen Kinofilm zu gestalten, der zunächst den Mustern der Spannungsdramaturgie des Politthrillers folgt – Alan J. Pakulas „All The President’s Men“ (1976) über den Watergate-Skandal kommt einem da in den Sinn. Aber dieser Film wäre nicht von Michael Mann, würde er nicht den Vorhang öffnen auf die größeren kapitalistischen Zusammenhänge: Der brisante Nachrichtenbeitrag ist fertiggestellt, die Aussage Wigands protokolliert, nur ein Sendetermin steht noch nicht fest. Zuvor wird noch ein Treffen mit der Anwaltskanzlei des Senders einberufen. Die Juristin von CBS äußert Risiken und mögliche Anklagen – „unlautere Einmischung“ nennt sich die rechtliche Problemlage, die CBS News finanziell ruinieren könnte. „The greater the truth, the greater the damage“, meint die Juristin. „Is this Alice in Wonderland?“, fragt Bergman. Mann glaubt an die Gerechtigkeit, vielleicht sogar an das Gesetz, aber er misstraut den Institutionen. Dieser Film ist womöglich immer noch einer der vernichtendsten Abgesänge auf die Kraft der freien Presse.

Ambivalenz

Zur Jahrtausendwende steht eine der bedeutendsten technologischen Erneuerungen des Filmes an, der Beginn einer neuen Ausdrucksform der Filmästhetik: das Digitalkino. Mann schließt diese innovativen Tendenzen in sein Werk ein: Bereits in „Ali“ (2001) dreht er die Eingangssequenz mit hochauflösenden Kameras, „Collateral“ (2004) ist dann einer der ersten Filme, der gänzlich hochauflösend gefilmt ist. Dieser HD-Ästhetik fiel besonders der Gangster-Biopic um John Dillinger, „Public Enemies“ (2009) zum Opfer. Mann, der Vorreiter, scheiterte an den eigenen Ambitionen. Bei all den oberflächlichen Genrezuschreibungen, die Manns Filme anbieten – den Sportfilm für „Ali“, den Action-Thriller für „Collateral“, den Gangsterfilm für „Public Enemies“ – der wahre Gehalt dieser Filme entzieht sich einem, schaut man nicht über diese ordnenden Größen hinweg. „Ali“ ist unter seiner Hülle als Boxerdrama mehr ein Film über den Rassismus in Amerika, über den Freiheitswillen als Gründungsmythos der USA, das ambivalente Verhältnis von Recht und Justiz. In „Collateral“ wurde einem bei all dem Bleigewitter, den diese Erzählung um einen Auftragskiller (Tom Cruise), der sich in einer Nacht in Los Angeles einen Taxifahrer (Jamie Foxx) zur Geisel nimmt, betreibt, nur beiläufig bewusst, was man seit „Thief“ erahnen konnte: Manns linke Gesinnung, sein Misstrauen gegenüber dem sozialen Lauf der Welt.

Der Taxifahrer ist nämlich eine ganz ausgebeutete Gestalt, gefangen in der Illusion, der großen Lüge des Kapitalismus: Dass Wohlstand doch für jedermann gelten könne. 2005 brachte Mann einen Film in die Kinos, der auf seiner populären Serie der Achtziger basierte. „Miami Vice“, mit Jamie Foxx und Colin Farrell in den Hauptrollen, entwickelte sich nicht zu dem gewünschten kommerziellen Erfolg – der Graben zwischen den Erwartungen einer Neuauflage der Serie, mitsamt ihrer Bildästhetik und den eingängigen MTV-Hitsongs, befriedigte Mann nicht. Sich zu wiederholen – für ihn undenkbar. „Miami Vice“ ist vielmehr eine Weiterführung der existenzialistischen Themenfelder, die Mann immer schon umtrieben: Die doppelte Identität eines Undercover-Agenten, das Absterben der Affekte in einer Welt der Hochglanzbilder, in denen wahre Emotionen überhaupt nicht mehr erfahrbar sind.

Überhöht, realistisch

Für „Public Enemies“ gewann Mann 2009 Johnny Depp für die Hauptrolle des berüchtigten Gangsters John Dillinger. Fokussiert auf die Zeitspanne 1933-34, erzählt der Film mehr aus der Perspektive der Gangster die blutige Gründungsgeschichte des FBI – deren menschenverachtende Ermittlungspraktiken stehen im krassen Gegensatz zu dem Bild des volksnahen, rauschhaft lebenden Gesetzlosen, den Mann überaus romantisierend in Szene setzt. Das ist das Entscheidende in Manns Blick auf den Gangster, dem er seit „Thief“ nachspürt: Er affirmiert ihn nicht, aber er versteht ihn zutiefst. Er ist nicht, wie in unzähligen benachbarten Gangsterfilmen, bloßes Genrezeichen, er ist Mensch. Manns Filme sind deshalb als überhöhte, realistische Zeitbilder zu verstehen. Er formt seine Erzählungen ausgehend von realen Persönlichkeiten und Begebenheiten, akribisch recherchierend, unermüdlich dem Verismus der eigenen Bilder verschrieben. Zwischen „Public Enemies“ und seinem nächsten Kinofilm widmete Mann sich der Entwicklung von Serienprojekten. Als er mit seinem Cyber-Thriller „Blackhat“ (2015) auf die Kinoleinwand zurückkehrte, erlebte er einen herben Rückschlag. Der Film erreicht unter der Schauspielleistung Chris Hemsworths nur selten die Eindringlichkeit eines Day-Lewis, Pacinos oder De Niros, aber diese globale Suche nach einem unsichtbaren Cyberkriminellen war, dessen ungeachtet, seiner Zeit schlicht voraus. Dass es in einer Welt der allumfassenden informatischen Vernetzung keinen Rückzugsort mehr geben kann, die ganze Welt einem frei zugänglich ist, davon berichtet dieser Film nachdrücklich. „Thief“ war Anfang der Achtziger auch besonders durch seine innovative Filmmusik der deutschen Techno-Formation Tangerine Dream aufgefallen. In „Blackhat“ engagierte er das Künstlerduo Trent Reznor und Atticus Ross, das seit „The Social Network“ (David Fincher, 2010) zu einer progressiven und innovativen Klangfarbe zeitgenössischer Filmmusik führt. Zu diesem Klangteppich fügt „Blackhat“ unbehagliche Bilder der Globalisierung bei.

Kompromissloser, unbedingter Eigenwille: US-Regisseur Michael Mann
Kompromissloser, unbedingter Eigenwille: US-Regisseur Michael Mann Foto: AFP/Valerie Macon

Seherfahrungen

Aufgrund all dieser Aspekte wird Mann gerne der Status zuerkannt, der „letzte Auteur“ des amerikanischen Kinos zu sein – dafür gibt es freilich gute Gründe, die aber im deutschsprachigen Raum weitestgehend unterbelichtet geblieben sind, wohingegen etwa in Frankreich viel früher eine äußerst positive Rezeption seiner Arbeit einsetzte. Das mag an den philosophischen Themenfeldern des Existenzialismus liegen, die Manns Filme bedienen. Wenn Manns Filme diesen Grad an Autorschaft, an „vision du monde“, ausbilden, dann auch, weil er es wie kein anderer verstanden hat, den Oberflächen des Genrekinos die realweltlich-innerlichen Tendenzen des modernistischen Gegenkinos einzuschreiben. Seit den Anfängen seiner Regiekarriere kann man in seinen Werken, ganz unter dem Gewand des Genrekinos, Bestrebungen ablesen, sein Kino zu einer realweltlichen Seherfahrung zu machen.

Unterschiedliche Genremuster

„Ferrari“ heute im Kino zu sehen, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Manns Film um das einschneidende Krisenjahr des Sportwagenunternehmens ist nur ansatzweise ein Sportfilm. Der Glanz der Bilder liegt auch hier über allem, aber Mann unterwandert sie, schreibt die Form dem Inhalt ein – Enzo Ferrari ist der Mann, der dem prestigeträchtigen Prunk der Autorennen verfallen ist, ein Romantiker des Motorsports, doch der kapitalistische Zeitgeist hat ihn längst überholt.

Manns kompromissloser, unbedingter Eigenwille ist es, der dem ganzen Sinn verleiht und zur wahren Größe verhilft. Mit nur 12 Filmen hat er ein Werk unterschiedlichster Genremuster geschaffen – ein Werk, das in sich eine Kohärenz, eine Konstanz und eine Dichte aufweist, die ihresgleichen sucht. Und es sind diese Seherfahrungen, die Manns Kino so reich machen. Der Zuschauer betritt einen Film von Michael Mann wie dessen Figuren: bereits ungemein unter Zeitverzug hinsichtlich des Gezeigten, ohne es zu wissen; überholt, ohne es zu wissen; blind, obwohl er glaubt, alles sehen zu können – dafür aber sind die Vorhänge der Welt zu dicht. Mann entfernt sie. Einen Michael-Mann-Film zu sehen, heißt auch, die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen, besser sehen zu können.