Olaf Scholz ist noch kurz allein auf der Regierungsbank. Es ist kurz vor neun Uhr am Donnerstag, ein Jahr und drei Tage nach der „Zeitenwende“-Rede des Kanzlers im Parlament. Es war damals sein historischer Auftritt bei jener Sonntagssitzung des Deutschen Bundestags. Ein Jahr russischer Angriffskrieg in der Ukraine mit all den Auswirkungen liegen nun hinter dem Land.
Der SPD-Politiker beginnt mit einem Zitat der ukrainischen Autorin Yevgenia Belorusets, die in ihrem Tagebuch nach dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 notierte: „Jetzt ist die Zeit, tapfer zu handeln und gegen den Aggressor starke, wirksame Mittel zu finden. In meiner Fantasie spielen sich jetzt schon hundert Varianten ab, wie das alles aufhören kann, wie der Krieg endet, in diesem konkreten Moment.“
Scholz betont, es sei wichtig, ukrainische Stimmen zu hören. Die Ukraine wolle, dass der Krieg ende – vom ersten Kriegstag an. Aber durch den Überfall Russlands bedeute Frieden auch, sich der Aggression und dem Unrecht entgegenzustellen. Der SPD-Regierungschef erntet Beifall, auch von Oppositionsführer Friedrich Merz. Der Unions-Fraktionschef und CDU-Vorsitzende wird noch ein paar Mal im Laufe der Regierungserklärung applaudieren, auch der Kanzler dankt mehrfach der Opposition und auch Merz persönlich für das mitunter gemeinsame Vorgehen bei der Zeitenwende, insbesondere beim Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro.
Botschaft an China
Scholz erklärt, Frieden schaffen bedeute eben auch, sich Aggression und Unrecht klar entgegenzustellen. Das täten mehr als 40 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer seit mehr als einem Jahr. Das tue Deutschland, „indem wir die Ukraine unterstützen – so lange, wie das nötig ist“, sagt der Regierungschef. Der Kanzler macht auch deutlich, dass aus seiner Sicht im Moment nichts dafür spreche, dass der russische Präsident Wladimir Putin bereit sei, über die Rückkehr zu solchen Grundsätzen und einen gerechten Frieden zu verhandeln. Es gelte aber: „Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln – außer über die eigene Unterwerfung.“
Und der Kanzler lenkt den Blick auf China. Er ruft Peking dazu auf, sich gegenüber Moskau für einen Truppenabzug im Nachbarland einzusetzen. „Nutzen Sie Ihren Einfluss in Moskau, um auf den Rückzug russischer Truppen zu drängen! Und: Liefern Sie keine Waffen an den Aggressor Russland!“
Oppositionsführer Merz betont: „Wenn Russland heute die Waffen schweigen lässt, dann ist morgen der Krieg zu Ende. Wenn die Ukraine heute die Waffen niederlegt, dann ist morgen das ukrainische Volk und die Ukraine als Staat am Ende.“
So einig sich Regierung und Opposition bei den großen Linien sind, so weit gehen die Beurteilungen bei der Umsetzung der Zeitenwende auseinander. Merz greift Scholz an: Sein vor einem Jahr ausgerufenes Ziel bei der Erhöhung der Verteidigungsausgaben etwa halte er nicht ein. Statt sofort das NATO-Ziel von mehr als zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu erreichen, sei der Verteidigungshaushalt in diesem Jahr sogar um 300 Millionen Euro gesunken.
Kritik an Wagenknecht
Einig ist man sich aber in einem anderen Punkt: Scholz legt ausführlich dar, warum Deutschland sich so stark, auch mit militärischer Unterstützung, in der Ukraine engagiert. Das Land sei angegriffen worden und kämpfe um seine Existenz. „Darum kann und wird es keinen Friedensschluss über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg geben“, sagt er unter dem Applaus von SPD, Union, Grünen und FDP. – Bei der Linken und der AfD rührt sich keine Hand.
Überhaupt die Linke – der Elefant im Raum ist an diesem Tag die Bundestagsabgeordnete und ehemalige Fraktionschefin der Linken, Sahra Wagenknecht. Sie ist an diesem Vormittag nicht im Plenum.
Merz kritisiert Wagenknecht scharf. Der CDU-Chef sagt mit Blick auf die Kundgebungen vom vergangenen Wochenende, dass „maßgebliche Vertreter“ von ganz links und ganz rechts „in geradezu bizarrer Gemeinsamkeit“ vorsätzlich Täter und Opfer verwechselten. Er wirft namentlich Wagenknecht vor, in einer TV-Sendung die Vergewaltigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten relativiert zu haben. Wenn eine Abgeordnete solche Äußerungen mache, „dann ist das zynisch, menschenverachtend, dann ist das einfach nur niederträchtig, dann ist das beschämend für unser ganzes Land“. Das Parlament applaudiert. Der Fraktionschef der Linken, Dietmar Bartsch, kritisiert daraufhin eine „unsägliche Verengung des Meinungskorridors“. „Wer den Krieg beenden will, der ist kein Friedensschwurbler, der ist auch kein Putin-Versteher. Wer Friedensverhandlungen fordert, will das Sterben, der will das Leid in der Ukraine beenden. Und er will die Möglichkeit der nuklearen Eskalation verhindern“, ruft Bartsch.
AfD-Co-Fraktionschef Tino Chrupalla wiederum wirft der Regierung vor, sich „einseitig transatlantisch“ auszurichten. „Aus diesem Krieg geht die Ukraine genauso als Verlierer hervor wie Russland. Es gibt wieder nur einen Gewinner, und dieser Gewinner, der heißt USA“, sagt Chrupalla. Scholz und Merz werden in diesem Moment dieselben Gedanken durch den Kopf gegangen sein. Ihre Mienen jedenfalls ähneln sich.
„Es gibt aber Werte, die viel größer als die Ukraine sind, die man verteidigen muss. Es gibt Situationen, in denen Widerstand die Rettung bedeutet“, zitiert Scholz am Ende seiner Regierungserklärung noch einmal die ukrainische Autorin und fügt an: „Wie recht sie hat“. Die große Mitte des Parlaments, das wird an diesem März-Tag im Bundestag auch deutlich, hat daran keinen Zweifel.
De Maart
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