„Den Stein ins Rollen gebracht“ – Heute vor 76 Jahren wurde im besetzten Luxemburg gestreikt

„Den Stein ins Rollen gebracht“ – Heute vor 76 Jahren wurde im besetzten Luxemburg gestreikt

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An diesem Freitag vor 76 Jahren fand der Generalstreik statt. Er begann in Wiltz, setzte sich in Schifflingen fort und dehnte sich dann auf das ganze Land aus. Ein Gespräch mit dem Historiker Jérôme Courtoy aus Schifflingen, der beim „Musée national de la Résistance“ in Esch angestellt ist. 

Gauleiter Gustav Simon hatte am 30. August 1942 die Zwangsrekrutierung der Jahrgänge 1920 bis 1924 verkündet. Am darauffolgenden Tag trat das gesamte Land in einen Generalstreik. Er begann in Wiltz, setzte sich in Schifflingen fort und dehnte sich dann auf das ganze Land aus. In Wiltz, dem Ausgangspunkt, weigerten sich die Arbeiter der Ideal-Lederfabrik morgens, ihre Arbeit aufzunehmen. Der Streik griff dann rasch auf die ganze Stadt über und setzte sich in Schifflingen fort, wo er sich dann auf das gesamte Land ausdehnte. Das heftigste Ausmaß erreichte der Streik zwischen dem 31. August und 2. September. Nach dem 3. September kam die Streikbewegung allmählich zum Erliegen. 21 Menschen wurden in den kommenden Wochen von der Gestapo verhaftet und von den Standgerichten zum Tode verurteilt.

Tageblatt: Wie muss man den Generalstreik vom 31. August 1942 heute einordnen?
Jérôme Courtoy: Der Generalstreik bildet einen der entscheidenden Schlüsselmomente der Geschichte der luxemburgischen Resistenz und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs im Großherzogtum. Er ist tief im kollektiven Gedächtnis des Landes verwurzelt. Zwei weitere „Momente“, die eine nicht weniger wichtige Rolle in der luxemburgischen Erinnerungskultur bilden, sind die Boykottierung der Personenbestandsaufnahme vom 10. Oktober 1941 sowie die Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung Menschen versteckt hielt bzw. ihnen zur Flucht verhalf. Daran hatte die Resistenz einen entscheidenden Anteil. All dies trug letztlich zum Mythos des Widerstandes bei.

Inwieweit ist der Generalstreik historisch aufgearbeitet?
Die Bezeichnung „aufarbeiten“ ist ein großes Wort. Ich bin geneigt zu sagen, dass wir dabei sind, das zu tun. Die Ausstellung, die jetzt im Rahmen der Feierlichkeiten stattfindet, trägt ihr Übriges dazu bei. Bereits im letzten Jahr wurde in Schifflingen unter Bürgermeister Roland Schreiner einiges an der klassischen Formel geändert, indem ein Kurzfilm über das Kriegsgefangenenlager Tambow – erzählt aus Sicht ehemaliger luxemburgischer Kriegsgefangener – gezeigt wurde. In diesem kam Jos Steichen, einer der ersten Luxemburger, die in Tambow interniert wurden, zu Ehren. Der neue Bürgermeister Paul Weimerskirch wollte, dass wir in diesem Jahr in jene Richtung weiterarbeiten. So kam die Idee auf, die Wiltzer Ausstellung „De Streik vun 1942“ nach Schifflingen zu holen und um jenen Aspekt des Streiks auf der Schifflinger Schmelz zu erweitern.

Was bedeutet das konkret?
Nun, die Ausstellung wird zunächst in Wiltz im Rahmen der Feierlichkeiten gezeigt. Dann wird sie in der Mittagsstunde dort abgebaut und nach Schifflingen transportiert, wo sie dann abends anlässlich der Feierlichkeiten begutachtet werden kann. Sie wird danach bis zum 16. September in der „Salle Grand-Duc Jean“ in der Schifflinger Gemeinde zu sehen sein. Die Ausstellung veranschaulicht den Streik auf eine pädagogisch einfache Art und Weise. Da ihr Fokus jedoch eindeutig auf Wiltz lag, wo der Streik ja auch in den frühen Morgenstunden in der Lederfabrik des 31. August 1942 ihren Ausgangspunkt hatte, gab mir der Schöffenrat den Auftrag, die Ausstellung zu erweitern und Schifflingen stärker zu betonen. An jenem Abend wird ebenfalls eine Broschüre zur Eingemeindung Schifflingens an Esch offiziell vorgestellt und die üblichen Vorträge gehalten.

Was passierte genau an diesem Montag in Wiltz?
Wie bereits erwähnt repräsentiert Wiltz den Ausgangspunkt des Streiks. Dort schlug der Streik mit am heftigsten zu. In den frühen Morgenstunden weigerten sich die Angestellten der Ideal-Lederfabrik, ihre Arbeit aufzunehmen. Kurze Zeit später breitete sich der Streik in der ganzen Stadt aus. Nahezu alle Geschäfte und Handwerksbetriebe beteiligten sich daran. Auch die Gemeindeangestellten zeigten sich solidarisch. In den Straßen bildete sich ebenfalls ein Protestmarsch, an dem rund 300 Personen teilnahmen. Dieser wurde dann blutig von der SA niedergeschlagen. Nach und nach verbreitete sich dann auch die Nachricht vom Aufstand in Wiltz in anderen Teilen unseres Landes.

Wie kam das mit der Verbreitung zustande, der Nazi-Besatzer kontrollierte ja damals die Presse?
Per Mund-zu-Mund-Propaganda. Offen ist in dem Zusammenhang jedoch, inwieweit die Streikbewegung von der Resistenz beeinflusst wurde und welches Ausmaß auf spontane zivile Empörung zurückzuführen ist. In Resistenzkreisen ist man jedoch stets der Ansicht, eine immanente Rolle bei der Organisation des Streiks gespielt zu haben. Jedenfalls verbreitete sich die Nachricht in Windeseile. Im Hüttenwerk in Schifflingen ging es dann gegen 18 Uhr los, wobei erste Anzeichen bereits im Verlauf des Nachmittags zu vernehmen waren.

Welches Ausmaß hatte der Streik in Schifflingen?
Im Walzwerk, im Maschinenbetrieb und in der Walzendreherei legten die Arbeiter der Mittagsschicht um 18.02 Uhr die Arbeit nieder. Die Produktion stand ab da still, wobei allerdings der Produktionsausfall nicht so groß war und der Schaden für die deutsche Kriegsindustrie sich in Grenzen hielt.

Wer löste den Streik aus?
Hans Adam zog die Sirene („de Bier“) und läutete damit das Schichtende ein. Er wurde später genauso wie 20 weitere Personen hingerichtet. Adam war gebürtiger Deutscher und ein klassischer Arbeitsmigrant. Das Timing war im Übrigen gut gewählt, denn um 18 Uhr gingen auch die Angestellten nach Hause. Das Werk stand demnach praktisch still. Erste Gerüchte, dass sich eine Arbeitsniederlegung anbahnen würde, hatte es bereits im Laufe des Nachmittags gegeben. Auch die Kreisleitung hatte Wind davon bekommen. Zudem war auch Mathias Koener, der Direktor des Werkes in Schifflingen, früher als geplant aus dem Urlaub gekommen. Er wurde dann gleich massiv unter Druck gesetzt.

Was waren die ersten Maßnahmen der Nazis?
Die Pforten des Werkes wurden geschlossen. Autos mit Lautsprechern fuhren auf und warnten vor den Konsequenzen. Kreisleiter Wilhelm Diehl weilte höchstpersönlich vor Ort und setzte wie gesagt Mathias Koener unter Druck. Wenn die Morgenschicht nicht zur Arbeit käme, würde jeder Zehnte der Belegschaft wahllos erschossen. Es wurden Listen diesbezüglich erstellt. Das traf dann aber nicht ein. Bereits zu Beginn der Nachtschicht begann sich die Lage wieder zu beruhigen, so dass letzten Endes Schlimmeres verhindert werden konnte.

Wie viele Menschen beteiligten sich am Streik?
Das ist eine schwierige Frage. Die Rede ist von 400 bis 500, andere Quellen sprechen von bis zu 2.000. Fakt ist, dass Schifflingen einer der Schlüsselmomente für den weiteren Verlauf des Streiks war, insbesondere für die darauffolgenden Repressionen der Besatzer. Die Industrie war kriegswichtig.

War das Datum denn bewusst gewählt?
Am 30. August proklamierte Gauleiter Gustav Simon die Zwangsrekrutierung der Jahrgänge 1920 bis 1924. Dies war der Auslöser. Anzeichen gab es jedoch bereits vorher. So wurde am 25. August im Elsass die gleiche Entscheidung verkündet. Die Pläne, auch in Luxemburg die obligatorische Wehrpflicht einzuführen, blieben alles andere als geheim. Daran konnte letzten Endes auch die über das Moselland verhängte Nachrichtenzensur nichts ändern. So tauchte beispielsweise ein Exemplar des Reichsgesetzblattes, das den Text mit der Verordnung enthielt, in Wiltz auf und wurde prompt kopiert.

Was geschah dann?
Der Chef der Gestapo, Fritz Hartmann, hatte den Gauleiter – der zu dem Zeitpunkt in Koblenz weilte – darüber informiert, dass die Lage ernst sei. Nach Rücksprache mit dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin wurde entschieden, den Ausnahmezustand auszurufen sowie eine Ausnahmegerichtsbarkeit mit Standgericht einzuführen. Der Ausnahmezustand wurde zunächst über Esch verhängt und galt demnach auch für Schifflingen, da Schifflingen im Zuge der Eingemeindung von 1941 zu Esch gehörte. Kurze Zeit später wurde der Ausnahmezustand auf Düdelingen und anschließend auf das ganze Land erweitert.

Schifflingen hatte also den Stein ins Rollen gebracht. Was passierte landesweit?
Neben den Arbeitsniederlegungen in etlichen Werken kam es auch zu Solidarisierungen in Schulen, so u.a. im „Meedercherslycée“ in Esch oder im Echternacher Gymnasium. Zahlreiche Schüler/-innen wurden verhaftet und zur Umerziehung nach Deutschland gebracht. Die Landwirte traten in den sogenannten „Mëllechstreik“ und schütteten ihre Milch aus, anstatt sie abzuliefern. Bei Paul Wurth, Villeroy & Boch wurde ebenfalls gestreikt sowie auch in den Hüttenwerken in Dommeldingen und Eich. Auch die Angestellten der Post in Luxemburg-Stadt schlossen sich der Bewegung an und verschlossen für eine Stunde den Eingang der Hauptpost. In Belval weigerten sich die Lehrlinge über mehrere Tage, an der täglichen Hisszeremonie teilzunehmen.

Wie lange dauerte der Generalstreik?
Das heftigste Ausmaß erreichte der Streik zwischen dem 31. August und 2. September. Nach dem 3. September kam die Streikbewegung allmählich zum Erliegen. Ausnahmen bildeten einige Streik-Herde, die sporadisch wieder aufloderten.

21 Menschen bezahlten diese mutigen Aktionen mit ihrem Leben. Was können Sie über das Schicksal einiger der Opfer berichten?
Ich werde auf einige Beispiele aus Schifflingen eingehen. Hans Adam habe ich ja bereits erwähnt. Er wurde später von Simon als Rädelsführer benannt. Er wurde erst am 9. September verhaftet. Da das Standgericht bereits aufgelöst war, kam er vor ein Sondergericht. Er wurde nicht erschossen wie die anderen, sondern am 11. September in Köln-Klingepütz enthauptet.

Eugène Biren

Bei Eugène Biren war es ähnlich. Nach einem ersten Gestapo-Verhör wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt, um später dann erneut verhaftet zu werden. Unter Folter versuchte man ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln. Er wurde am 8. September vom Standgericht zum Tode verurteilt und am Folgetag im SS-Sonderlager/KZ Hinzert erschossen. Ihre Familien werden umgesiedelt.
Schließlich noch Mathias Koener. Er wurde von den Nazis ebenso als einer der Verantwortlichen des Streiks in Schifflingen angesehen. So habe er u.a. zu wenig für die Eindämmung des Streiks getan und die Gestapo zu spät informiert. Am 6. September wurde er verhaftet und abgeurteilt. Das Gericht plädierte auf einen Aufschub des Todesurteils bei täglicher Bewährung. Lediglich durch die Aussage von Heinrich Diehl – Landesgruppenleiter der NSDAP in Luxemburg – entging er der Todesstrafe. Er wurde daraufhin im KZ Hinzert interniert. Anfang März 1943 wurde er entlassen. Koener starb am 8. März aufgrund der dort erlittenen schweren Misshandlungen.

 

roger wohlfart
31. August 2018 - 13.06

Der Generalstreik vom 31. August 1942 ist zugleich der heldenhafteste und blutigste Tag Luxemburgs im 2.Weltkrieg. An diesen denkwürdigen und historischen Aufstand unserer Vorfahren sollten die jungen Menschen jedes Jahr erinnert werden und nicht nur sie, auch unsere ausländischen Mitbürger sollten davon in Kenntnis gesetzt werden. Diese Auflehnung gegen den Nazibesetzer gehört in die Luxemburger Geschichtsbücher und sollte entsprechend in den Schulen behandelt werden. Das hat absolut nichts mit Patriotismus oder Nationalismus zu tun!