Donnerstag20. November 2025

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Großbritannien„Den Leuten nicht ihre Partys vermiesen“: Britische Regierung ignoriert Rat der Wssenschaftler

Großbritannien / „Den Leuten nicht ihre Partys vermiesen“: Britische Regierung ignoriert Rat der Wssenschaftler
Impfzentrum im Wembley-Stadion: Die britische Regierung zögert die Verhängung harter Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Omikron hinaus Foto: Tolga Akmen/AFP

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Die von Premier Boris Johnson vorhergesagte „Omikron-Flutwelle“ trifft in Großbritannien auf eine geschwächte und zunehmend uneinige Regierung. Das konservative Kabinett verweigerte sich am Samstag einem Mini-Lockdown, wie ihn die eigenen Wissenschaftsberater fordern. Hingegen fordert die Opposition größere Härte im Kampf gegen Sars-CoV-2; Londons Bürgermeister Sadiq Khan (Labour) rief sogar den Katastrophenfall aus.

Die zunehmend verängstigte Bevölkerung beherzigt längst Vorsichtsmaßnahmen: Die Innenstädte sind zunehmend verwaist, Geschäfte, Theater und Restaurants klagen über massiven Umsatzrückgang. Schätzungen der Epidemiologen zufolge machen Infektionen mit der aus Südafrika stammenden Omikron-Mutation mittlerweile mehr als die Hälfte aller Ansteckungen auf der Insel aus. Diese sind zuletzt um 67 Prozent in die Höhe geschnellt und liegen auf einem Rekordhoch von mehr als 90.000 Fällen täglich. Hingegen gehen die Todeszahlen zurück. Im Wochendurchschnitt starben zuletzt jeden Tag 112 Menschen innerhalb eines Monats nach ihrem positiven Covid-Test. Zum Vergleich: Das um 22 Prozent bevölkerungsreichere Deutschland hatte im gleichen Zeitraum zuletzt täglich 375 Corona-Tote zu beklagen, also deutlich mehr als dreimal soviel.

Gesundheitsminister Sajid Javid bezifferte die Zahl der Krankenhaus-Patienten mit Omikron auf England-weit 85; erste Zahlen aus Südafrika nährten die Hoffnung, der Krankheitsverlauf könne milder ausfallen als bei der bisher vorherschenden Delta-Variante und deshalb weniger Spital-Einweisungen nötig machen.

Hingegen lässt eine erste Studie am Londoner Imperial College diesen Schluss nicht zu, wie Professor Azra Ghani den britischen Medien erläuterte. Zudem müsse man angesichts der schieren Anzahl von Covid-Patienten mit „einer großen Anzahl von Menschen rechnen, die der Pflege im Krankenhaus bedürfen“. Dieses würde zu täglichen Todeszahlen von mehreren Tausend führen. Auf dem Höhepunkt der Corona-Welle im Januar starben auf der Insel täglich bis zu 1.820 Menschen an den Folgen ihrer Corona-Infektion. Ghani wies aber auch auf die bisher mangelnde Datensicherheit hin: Seine Studie stelle „einen Hinweis auf die Notwendigkeit raschen Handelns, keine Prognose“ dar.

Ähnlich argumentierten am Samstag der Chef-Wissenschaftsberater Patrick Vallance sowie der höchste Gesundheitsbeamte Englands, Christopher Whitty. Angesichts der jüngsten Entwicklung sei ein auf zwei Wochen begrenzter Lockdown („Circuit breaker“) notwendig. Das Kabinett verweigerte sich dem Rat. Javid nannte die vorgelegten Zahlen am Sonntag „ernüchternd“; vor einer so weitreichenden Entscheidung müsse die Regierung aber viele andere Faktoren abwägen. Premier Johnson will um beinahe jeden Preis weitere Einschränkungen zu Weihnachten vermeiden. „Wir wollen den Leuten nicht ihre Partys vermiesen“, so der Regierungschef.

Die Einstellung ist nicht nur Johnsons eigenem libertären Instinkt, sondern auch seiner geschwächten Stellung geschuldet. Am Dienstag verweigerten mehr als 100 Hinterbänkler der eigenen Regierung die Zustimmung zu Maßnahmen wie dem verpflichtenden Maskentragen in geschlossenen Räumen sowie der 3G-Regelung bei Großveranstaltungen. Staatsminister David Frost, als Brexit-Chefverhandler bekannt geworden, legte seinen Posten am Samstag nieder, mit der Begründung, er könne diese aus kontinentaleuropäischer Sicht milden Einschränkungen nicht mehr mittragen. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben“, schrieb der 56-Jährige in seinem Rücktrittsbrief an Johnson.

Londons Bürgermeister ruft Katastrophenfall aus

Die Glaubwürdigkeit der Regierung leidet auch unter immer neuen Enthüllungen über die laxe Einstellung gegenüber den Corona-Bestimmungen, die Beamte und Parteifunktionäre in London im vergangenen Winter an den Tag legten. Mehrere Weihnachtspartys in der Downing Street sowie dem Bildungs- und Finanzministerium sollte eigentlich der höchste Beamte des Landes untersuchen. Am Freitag aber musste Simon Case die unerfreuliche Aufgabe an eine Kollegin abtreten: In seiner eigenen Abteilung hatten Beamte ebenfalls gemeinsam gefeiert, zu einem Zeitpunkt, als soziale Zusammenkünfte gesetzlich verboten waren.

Die Opposition macht nun Druck auf die Regierung, rascher als bisher dem Rat der Wissenschaftler zu folgen. Die Labour-geführte Regionalregierung von Wales sowie die Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von den schottischen Nationalisten haben bereits weitergehende Corona-Einschränkungen angeordnet oder angekündigt. In Schottland dürfen sich schon jetzt nur noch Angehörige von drei Haushalten gleichzeitig treffen; in Wales müssen am 27. Dezember alle Nachtclubs schließen, zudem gilt dann wieder die Abstandsregel von zwei Metern in Büros, Fabrikhallen und Geschäften.

In der Hauptstadt London, dem Omikron-Epizentrum, rief Labour-Bürgermeister Sadiq Khan am Samstag den Katastrophenfall aus. Die weitgehend symbolische Geste erleichtert immerhin, dass besondere Notfallpläne in Kraft treten und zusätzliches Personal aus anderen Landesteilen zu Hilfe gerufen werden kann. Das Personal bei Polizei, Feuerwehr und im nationalen Gesundheitssystem NHS ist durch die „außerordentlich besorgniserregende Omikron-Entwicklung“, so Khan, ausgedünnt. Nach einer Weihnachtsfeier wurde kürzlich die Abteilung für ambulante Eingriffe am Süd-Londoner King’s Hospital außer Gefecht gesetzt: Offenbar hatte ein einziger infizierter Gast ausgereicht, „um alle anderen anzustecken“, berichtet ein NHS-Angestellter.

Zivilgesellschaft schränkt sich ein

Unterdessen schränkt sich die Londoner Zivilgesellschaft auch ohne Regierungsanordnungen ein. Der Friseursalon „Open Barbers“ im Ost-Londoner Stadtteil Shoreditch wandte sich am Freitag mit einem Appell an die queere Kundschaft: Um Team und Kunden vor einer Omikron-Ansteckung zu schützen, schließe man ab sofort und bis in den Januar hinein die Tür; als Ausgleich für das entgangene lukrative Vorweihnachts-Geschäft bitte man um Spenden. Schon zwei Tage später schrieben das Leitungsduo Greygory und Toddy voller Begeisterung erneut: Das Spendenziel von umgerechnet 2.124 Euro sei bereits erreicht. „Ihr seid unglaublich! Wir wünschen uns, dass Leute wie Ihr das Land regieren.“

Im Kammermusiksaal Wigmore Hall war binnen weniger Tage die Beunruhigung über die neue Virusvariante am Zuspruch der gutbürgerlichen Klientel von Musik-Begeisterten ablesbar. Am vergangenen Dienstag waren immerhin noch vier Fünftel der Plätze besetzt, als der Münchner Bariton Christian Gerhaher und sein Duo-Partner Gerold Huber Brahms-Lieder vortrugen. Drei Tage später musste Mezzosopran Magdalena Kozena vor halbleeren Reihen singen. Normalerweise sind die Auftritte der beiden weltberühmten Sänger in London stets bis auf den letzten Platz gefüllt.