InterviewJean Asselborn über die Afghanistan-Krise: „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht exportierbar“

Interview / Jean Asselborn über die Afghanistan-Krise: „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht exportierbar“
Jean Asselborn spricht im Interview über die Lehren, die der Westen aus Afghanistan ziehen muss Foto: Editpress/Julien Garroy

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sieht die Außenpolitik des Westens nach dem Desaster in Afghanistan vor einem Paradigmenwechsel: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ließen sich anderen Ländern mit anderen Traditionen nicht aufzwingen. Der im Moment ratlose Westen brauche rasch einen neuen Ansatz.

Tageblatt: Herr Asselborn, wie ist die Situation in Afghanistan aktuell zu bewerten?

Jean Asselborn: Wenn die Taliban wiederholen, was sie vor 20 Jahren schon getan haben, die massive Verletzung von Menschenrechten, die Diskriminierung von Frauen und Mädchen, dann ist das der GAU, der größtmögliche Unfall, den wir gerade erleben. Weder die Amerikaner noch die Europäer haben aber voraussehen können, dass die Taliban in nur einer Woche das Land zurückerobern würden.

Welche Fehler hat der Westen in Afghanistan gemacht?

Der Sinn des Einsatzes der westlichen Streitkräfte in Afghanistan war für uns Europäer immer der Schutz der Menschenrechte. Wir wollten nicht dabei zusehen, dass Frauen und Mädchen wie Menschen zweiter Klasse, wie Untermenschen behandelt werden. Wo wären wir heute, wenn der Westen vor 20 Jahren nicht eingegriffen hätte? Von daher hat der Einsatz schon Sinn gemacht. Ich habe in Afghanistan sehr couragierte, mutige Frauen getroffen, die eine Lebensweise haben wollten, die sich an unseren westlichen Werten orientiert.

Welche Konsequenz muss der Westen jetzt aus der Entwicklung ziehen?

Wir müssen erkennen, dass unser bisheriger westlicher Ansatz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Länder wie Afghanistan, Mali oder andere Länder exportieren zu wollen, einfach nicht funktioniert. Durch die westliche Außenpolitik muss nach der Machtübernahme der Taliban ein Ruck gehen: Wir müssen uns überlegen, ob wir einem anderen Volk überhaupt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufzwingen können. Das ist eine kapitale Frage, die sich der Westen jetzt stellen muss, ohne zugleich in Fatalismus zu verfallen. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht auf Länder transferierbar, die eine ganz andere Geschichte, Mentalität und Tradition haben als wir. Diese Lehre müssen wir aus Afghanistan ziehen.

Ich gebe zu, dass wir im Moment noch etwas ratlos sind

Jean Asselborn, Außenminister

Was kann der Westen denn jetzt überhaupt noch tun?

Zuschauen und Nichtstun ist jedenfalls nicht die Alternative. Ich gebe zu, dass wir im Moment noch etwas ratlos sind. Klar ist aber, dass der internationale Druck auf die Taliban in diesem Moment unbedingt aufrechterhalten werden muss. Die Menschenrechte dürfen nicht mit Füßen getreten werden. Eine Regierung der Taliban, die die Menschenrechte nicht respektiert, kann von der EU nicht akzeptiert werden. 50 Prozent der Menschen in Afghanistan bedürfen internationaler Hilfe! Ohne diese Hilfe würde das Chaos im Land noch viel schlimmer. Darum hoffe ich, dass die Taliban gelernt haben, dass sie die Menschenrechte wahren müssen.

Wie kann der Rest der Welt der Hälfte der afghanischen Bevölkerung von außen helfen?

Die EU steuert bereits unheimlich viel Geld und Material zur humanitären Hilfe bei. Das ist der einzige Hebel, den wir im Moment noch haben, um die Taliban zu beeinflussen. Wir brauchen China und Russland dabei mit am Tisch.

Aber China und Russland sind doch vor allem an den Bodenschätzen interessiert, weniger an den Menschenrechten …

Ja, klar. Russland leidet aber sehr unter dem Opium-Handel aus Afghanistan. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass China eine Taliban-Regierung unterstützt, die die gesamte Region destabilisiert und die Menschenrechte mit Füßen tritt. Wir sind in einer Phase, in der wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Wir dürfen die Welt jetzt nicht aufteilen in westliche und nicht-westliche Interessen. Wir brauchen eine starke Kooperation mit Russland und China.

US-Präsident Biden hat gesagt, künftig würden die USA nirgends mehr einmarschieren, sondern den Terror nur noch gezielt bekämpfen durch kurze militärische Aktionen. Ist das der Weg, den der Westen gehen muss?

Terrorismus darf man sich nicht entwickeln lassen. Der französische Präsident Macron hat am Montag fast dasselbe gesagt wie Joe Biden. Was Amerika angeht: Ich kann verstehen, dass man nach 20 Jahren in Afghanistan Schluss machen möchte. Es ist sicher kritisch zu sehen, wie schnell dieser Truppenabzug vollzogen wurde. Aber als Europäer müssen wir auch eingestehen, dass der Einsatz der USA in Afghanistan viel, viel höher und teurer war als unserer. Es ist zu einfach, jetzt einfach den Amerikanern die Schuld für das Desaster in Afghanistan zu geben.

Ënnert Ons matters.
18. August 2021 - 10.11

Wann ist die Zeit gekommen , einem Regierungsmitglied den Laufpass zu geben ?
Fangen wir mit dem Aussen-und Einwanderungsminister an :
-Wenn dieser wörtlich zugibt , dass er und seine hauptsächlich europäischen Amtskollegen , nicht an Ort und Stelle vorausgesehen haben , was ein Blinder im Lybanon , Irak, Mali, Tunesien und in anderen arabischen Frühlings Revolutionsländer gesehen hätte.......und für das heute auch wir wie Millionen dortiger Menschen bitter zahlen müssen......7
- angibt ignoriert zu haben, dass Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschentechte sich nicht anderen Ländern mit anderen Traditionen aufzwingen lassen, und mitnichten dorthin exportiert werden können.......
-Wenn er dumm und dämlich fragt , wo wir heute wären wenn der Westen nicht in Afghanistan eingegriffen hätte.......
-Wenn er als Chefdiplomat zugeben muss dass er im Moment noch etwas „ ratlos „ ist und glaubt dass Zuschauen und Nichtstun keine bessere Alternativen sind als den Druck auf die Taliban unbedingt aufrecht zu halten .....
- Wenn der davon ausgeht dass dieser Druck die Menschenrechte nicht mit Füssen zu treten , nur mit dem einzigen Hebel viel Geld , bei den Taliban erreichbar ist.....
- Und wenn .... und wenn er schlussendlich dem anerkanntn Wahlgewinnr , dem senilen Biden ,der mit einigen schnelleren Schritten einen Marathon vortäuscht Glauben schenkt die USA würden unter ihm nirgends mehr einmarschieren , dann ist der oben angesagte Zeitpunkt für seinen „endgültigen“ Abschied längs gekommen ,merde alors !

9

jeff
18. August 2021 - 8.49

Europäesch Geschicht huet jo schonn gewisen dass et näischt gëtt wa Politiker hier "WÄERTER" an "IDEOLOGIE" opdrängen wëllen. Mä anscheinend war dat e puer Politiker net bekannt, oder hier Arroganz war esou héich dass se geduecht hunn dass et elo klappen géif

Rom
18. August 2021 - 7.36

Interssant Ausso:

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ließen sich anderen Ländern mit anderen Traditionen nicht aufzwingen.

Weini mierken mer dat dann mat der Immigration vun inkompatiblen Kulturen ??
Nachmol 20 joer?
Gei an pensioun Jang.

Realist
18. August 2021 - 7.17

Späte Einsicht, aber immerhin. Dass Chaos, Gewalt und Totalitarismus sehr leicht importierbar sind, muss er aber erst noch herausfinden.

Sepp
18. August 2021 - 0.53

An nach eppes: D'letzebuerger Männer géifen sech bestemmt iwwer afghanesch Fraleit free'en an di nei emanzipéiert letzebuerger Fraleit géifen sech bestemmt iwwer déi afghanesch Männer free'en. Jiddereen well jo gär déi finanziell Kontroll iwwer säin Partner hunn. Souvill zum Thema Awanderung.

Sepp
18. August 2021 - 0.49

1. Was würde ich geben um das Einkommen der Kommentatoren zu erfahren. 2. Was würde ich geben damit 1 Kommentator eine einzige Idee für den Export der Demokratie kundtut

S.N.
17. August 2021 - 18.52

Seit Jahren wissen das schon alle... Aber besser spät als nie, doch haben wir diese Dinge auch wirklich noch immer in der EU ?

d'Mim
17. August 2021 - 18.23

d'Politiker brauchen munchmol 20 a méi Joeren fir ze verstoen wat de Mann vun der Stross gleich versteet! Wéi ass daat?

Wieder Mann
17. August 2021 - 15.55

Späte Einsicht , Kehrtwendung eines Außenministers der die Welt retten wollte und nach alter Kolonialherrenmanier auszog , den „ unzivilisierten , undemokratischen „ Völkern unsere kulturellen, politischen Auffassungen aufzuschwatzen. Zwischen realer Politik, realer Welt ist Humanismus doch wohl Fiktion.

Ba
17. August 2021 - 15.50

E sist bemerkenswert dass Herr Asselborn auch begriffen hat das leider unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht exportierbar ist...und die toten NATO Soldaten während ihrem Einsatz in diesem Lande können dem ja nicht widersprechen...oder??

D.W.
17. August 2021 - 14.50

"Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ließen sich anderen Ländern mit anderen Traditionen nicht aufzwingen."
Auf einmal? Wie wurde denn bis vor kurzem noch auf die Ungarn gewettert? Oder auf Staaten, die nicht der EU angehören? Leider kommen diese Einsichten immer erst sehr spät!

Joel
17. August 2021 - 14.40

20 Joer fir eppes ze soen wat Millioune Leit schon joerelang soen? Ass dat alles elo wat se vun Excuse fir hieren Debakel hunn? En Armutszeugnis fir déi ganz Politik!