Tageblatt-Feature„Das Straflager lässt dich nicht los“: Ein russischer Ex-Häftling erzählt von Erniedrigung und einem korrupten System

Tageblatt-Feature / „Das Straflager lässt dich nicht los“: Ein russischer Ex-Häftling erzählt von Erniedrigung und einem korrupten System
Ruslan Wachapow und seine Ehefrau. Beide engagieren sich in der Gefangenenhilfsorganisation Russland hinter Gittern Foto: Jutta Sommerbauer

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Ruslan Wachapow verbüßte fünfeinhalb Jahre Haft in einer russischen Strafkolonie. Er erzählt von einem korrupten System, das die Insassen erniedrigt und gefügig macht – und sie selbst nach der Entlassung keine freien Menschen sein lässt.

Vor zehn Jahren, sagt Ruslan Wachapow, hatte er alles. Eine Ehefrau, zwei kleine Kinder, eine Dreizimmerwohnung. „Ein sorgloses Leben.“ Er arbeitete für ein Unternehmen als Einkäufer von Baumaterialien und fuhr einen Audi Q7. Er verdiente gut, sehr gut sogar. „Ich konnte mir einen 1.000 Dollar teuren Anzug leisten, um damit einmal ins Restaurant zu gehen.“

Heute arbeitet Wachapow als Fahrer eines öffentlichen Autobusses. Er verdient 15.000 Rubel im Monat, umgerechnet 160 Euro. Er lebt in einer Mietwohnung. Mit seiner Frau und den Kindern. Sie sind ihm geblieben. „Zum Glück“, wie er gegenüber dem Tageblatt sagt. Wachapow, 39, ist ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit aufgeweckten Augen und brünettem Kurzhaar. Während des Gesprächs sitzt er in der Fahrerkabine des Autobusses. Eine Stunde Zeit hat er, um seine Geschichte zu erzählen. Es ist seine Mittagspause.

Ruslan Wachapows Leben teilt sich in ein Davor und in ein Danach. Dazwischen liegt das Straflager. Eine mehrjährige Haftstrafe hat ihm sein Vertrauen in den Staat genommen und seine Zuversicht geraubt. „Innerhalb eines Tages wird dir alles genommen. Es war ein Schock. Ein psychologisches Trauma. Erst nach drei, vier Tagen verstand ich so richtig, dass ich jetzt im Gefängnis bin.“ Wachapow war ein Häftling – einer von 500.000 Bürgern, die gegenwärtig in russischen Gefängnissen und Straflagern sitzen. Viele von ihnen haben sich etwas zuschulden kommen lassen: Drogenmissbrauch und -handel, Diebstahl, Körperverletzung und manchmal schlimmere Verbrechen.

Ruslans Fall ist „komisch und schrecklich zugleich“ 

Doch die Geschichte von Ruslan Wachapow ist anders. Sie erzählt nicht nur von erniedrigenden und unmenschlichen Praktiken im russischen Strafvollzug, wie sie derzeit aus Anlass des Falles Alexej Nawalny verstärkt in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Sein Schicksal zeigt auch, wie das Zusammenwirken von Korruption, Behördenwillkür und Verfahrensfehlern einen Unschuldigen für Jahre hinter Gitter bringen kann. Gerechtigkeit hat Wachapow bis heute nicht erfahren.

Was dem 39-Jährigen passiert ist, klingt zunächst unglaublich. Ein „komischer und schrecklicher Fall gleichzeitig“, wie sein Anwalt einmal sagte. Das ist ziemlich treffend. Das Verhängnis begann damit, dass Wachapow im September 2011 an einem – wie er sagt – „nicht ordnungsgemäßen Ort“ auf die Toilette ging. Er war im Auto unterwegs, seine Blase drückte, er hielt in einem Dorf an und ging in die Büsche. Hinter ihm erklang ein Lachen – drei Mädchen hatten ihn auf frischer Tat ertappt. Sie gaben später an, seinen „Hintern“ gesehen zu haben. Ein anderer Mann kam hinzu, man einigte sich darauf, die Polizei zu rufen. Wachapow wurde eine Verwaltungsstrafe aufgebrummt. Zwei Wochen später leiteten die Behörden plötzlich Ermittlungen wegen „sexueller Handlung an Minderjährigen“ ein. Eine Anwältin, die, wie Wachapow überzeugt ist, mit den Ermittlern unter einer Decke steckte, stellte ihm eine informelle Regelung des Falls in Aussicht: Gegen die Zahlung von 200.000 Rubel würde ihm „nur“ eine Bewährungsstrafe drohen. „Ich hätte mir das leisten können“, sagt er. „Aber meine Überzeugung hat es mir nicht erlaubt, Bestechungsgeld für eine Tat zu zahlen, die ich nicht begangen habe.“

Als sich Wachapow beim Ermittlungskomitee über die Erpressung beschwerte, drohte man ihm dort, ihn „lange hinter Gitter zu bringen“. Was mehr als ein Jahr später passierte: Ein Gericht verurteilte ihn zu sieben Jahren im Straflager. Selbst in der Untersuchungshaft gab er sich nicht geschlagen und legte Beschwerde gegen das Urteil ein. Obwohl ein anderes Gericht später die Fälschung von Zeugenaussagen feststellte, wurde er doch für schuldig befunden. Das ursprüngliche Urteil wurde nur geringfügig abgemildert: fünfeinhalb Jahre Straflager. Im September 2013 trat Wachapow seine Haft in der Strafkolonie IK-1 in der zentralrussischen Stadt Jaroslawl an, knapp 300 Kilometer nordöstlich von Moskau.

Vom Moment der Untersuchungshaft an bist du kein Bürger mehr. Es ist die erste Bekanntschaft eines Menschen mit dem Gulag. Du hast nur noch das Recht, zu schweigen und alles auszuhalten – die Vorbereitung auf ein Hundeleben

Ruslan Wachapow

Es ist ein Lager, das ein paar Jahre später wegen dort praktizierter Folter und Prügelorgien gegen Häftlinge in die Medien kam. Auch dank der Aussagen von Ruslan Wachapow.

Wachapow beschreibt seine Haftzeit als allmähliches Abgleiten in die Rechtlosigkeit. „Vom Moment der Untersuchungshaft an bist du kein Bürger mehr. Es ist die erste Bekanntschaft eines Menschen mit dem Gulag. Du hast nur noch das Recht, zu schweigen und alles auszuhalten – die Vorbereitung auf ein Hundeleben.“ Offiziell existiert der Gulag, das sowjetische Lagersystem, in Russland natürlich nicht mehr. Doch Kontinuitäten sind bis heute zu spüren.

Olga Romanowa, Gründerin der Gefangenen-Hilfsorganisation „Russland hinter Gittern“ nennt das System „unreformiert“. Zum russischen Lagersystem gehören die strenge interne Hierarchie und die unbedingte Unterordnung des Neulings, drakonische Strafen für kleinste Übertretungen, der Einsatz körperlicher Gewalt, das Schuften in Lager-eigenen Betrieben für ein paar Rubel. „Der Häftling gilt nicht als Mensch“, sagt der frühere Lagerinsasse Konstantin Kotow, der wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen für eineinhalb Jahre hinter Gitter musste. „Der Sinn des Strafvollzug-Systems besteht darin, dass es Kälte, Hunger und Ruhe gibt“, sagt Ex-Häftling Wachapow. Auch Olga Romanowa bestätigt: „Das Ziel ist: Die Menschen sollen sich fürchten. Das Gefängnis muss schrecklich sein.“

Unmenschliche Praktiken im russischen Strafvollzug werden derzeit wegen des Falles Alexej Nawalny verstärkt in der Öffentlichkeit diskutiert
Unmenschliche Praktiken im russischen Strafvollzug werden derzeit wegen des Falles Alexej Nawalny verstärkt in der Öffentlichkeit diskutiert Foto: AFP/Dimitar Dilkoff

In Wachapows Fall begann die Einschüchterung gleich am Lagertor. Auf dem Weg zum Lagergebäude wurde er mit Gummiknüppeln und Holzhammern malträtiert – eine übliche Praxis zum „Empfang“ der Neuankömmlinge. Sieben Tage verbrachte er in einer Quarantänezelle, bevor er einer Abteilung von Gefangenen, dem sogenannten „otrjad“, zugeordnet wurde. Anders als in den Gefängnissen verbringen die Häftlinge in russischen Straflagern ihren Alltag in großen Gruppen. Man schläft, isst und arbeitet zusammen.

Wachapows Abteilung bestand aus 145 Männern, die in zwei Schlafsälen untergebracht waren. „Da braucht man gute Nerven“, erinnert er sich. Die Bedingungen waren desolat: aneinandergestellte Metallbetten, abgetretene Holzböden, undichte Fenster. Toiletten ohne Trennwände. Vier Waschbecken für 145 Menschen. Kaltes Wasser. Ein Kühlschrank. Einmal habe er ein Stück Speck in den Kühlschrank gelegt, erzählt Wachapow. „Ich sagte der ganzen Abteilung: Das ist mein Speck. Als ich später den Kühlschrank öffnete, hatte jemand davon abgebissen.“ Viele Insassen seien einfach hungrig. Es gebe einige, die nie Besuch und zusätzliche Verpflegung von außen bekämen.

Der Alltag ist geprägt vom Zwangskollektiv und von vielen Regeln, an die man sich tunlichst zu halten hat – sonst landet man zur Strafe schnell in der Arrestzelle. Wachapow war häufig dort. Er stand für seine Rechte und die seiner Mitgefangenen ein – und hatte daher oft „Probleme“, wie er sagt.

Als die Nowaja Gaseta 2018 ein Video mit schlimmen Folterszenen an einem Häftling aus der IK-1 veröffentlichte, äußerte sich auch Wachapow zu den Vorfällen. Regelmäßig seien Gefangene – er inklusive – bei Lager-Durchsuchungen schwer verprügelt worden. Diese Aktionen wurden im Jargon der Aufseher „Masken-Show“ genannt, weil die dafür eingesetzten Spezialkräfte maskiert waren. Der Fall schlug Wellen, es kam zum Prozess. Elf Ex-Mitarbeiter der Strafvollzugsbehörde erhielten Haftstrafen bis zu vier Jahre. Zwei ehemalige Führungskräfte der IK-1 wurden hingegen freigesprochen.

Richtig frei ist er bis heute nicht

„Niemand wird dich behandeln. Wirst du ernsthaft krank, wirst du sterben.“ Das sind die warnenden Worte von Michail Chodorkowskij, der selbst mehrere Jahre in einem Straflager in Sibirien einsaß. Nicht nur der Fall Nawalny zeigt gegenwärtig, dass es in den Straflagern keine adäquate medizinische Versorgung gibt. Auch Ruslan Wachapow bestätigt diesen Missstand: „Im System des Strafvollzugs gibt es keine Medizin“, sagt er. In der IK-1 sei einmal die Woche ein Arzt anwesend gewesen. Ein Zahnarzt. „Er konnte nur Zähne ziehen, das war alles.“ Medikamente waren kaum verfügbar. Jährliche Kontrolluntersuchungen wurden oft nicht durchgeführt. Häftlinge seien trotz der Verbreitung ansteckender Krankheiten wie HIV oder Hepatitis nicht untersucht worden. Auch Wachapow hat Leiden aus der Strafkolonie in die Freiheit genommen. „Meine Mahlzähne sind kaputt, weil das Essen im Lager so schlecht war.“

Im Juni 2018 wird der Familienvater endlich aus dem Straflager entlassen. Doch richtig frei ist er bis heute nicht. Denn ein Teil von Wachapows Strafe ist, dass er sich einmal wöchentlich persönlich bei der Polizei melden muss, und das insgesamt sechs Jahre lang. „Administrative Aufsicht“ nennt sich diese Maßnahme. Ein Problem für den Ex-Häftling. „Das Straflager lässt dich nicht los“, sagt er. Kaum ein Arbeitgeber habe für diese Regel Verständnis. Das sei der Grund, warum er als schlecht bezahlter Busfahrer arbeiten müsse. „Einen anderen Job finde ich nicht.“

Administrative Einschränkungen wie diese sind ein Grund, warum Ex-Häftlinge nur schwer Fuß fassen können. Viele sind zudem gesundheitlich angeschlagen und haben Schwierigkeiten beim Aufbau einer neuen ökonomischen Existenz. Auf berufliche Weiterentwicklung wird während der Haft kaum Augenmerk gelegt. Nicht wenige ehemalige Häftlinge werden daher erneut straffällig: Fast die Hälfte der Insassen in russischen Strafkolonien sitzt bereits zum zweiten oder dritten Mal. „Viele sagen sich: Immerhin gibt man mir dort zu essen und ich habe ein Dach über dem Kopf. Besser, als sich in Freiheit zu erniedrigen.“