Polen hat am Mittwoch einen neuen Staatspräsidenten. Er heißt Karol Nawrocki, ist promovierter Historiker, und war früher Boxer. Viel mehr weiß man auch in Polen nicht über den nach Kim Jong-un fast jüngsten Staatsführer der Welt. Der Nordkoreaner hatte einen mächtigen Vater und musste sich keinen Wahlen stellen. Nawrockis Vater ist Dreher, seine Mutter Buchdruckerin. Im Mai musste er sich in einer ersten Wahlrunde gegen zwölf Mitbewerber durchsetzen. Am 1. Juni schlug der 42-jährige Konservative nach einer gegen ihn gerichteten Schmutzkampagne in der demokratischen Stichwahl den lange als Favoriten gehandelten liberalen Vollblut-Politiker und Tusk-Freund Rafal Trzaskowski (53).
Seitdem reibt sich Polen die Augen, denn abgesehen von einem kurzen Handshake bei Donald Trump im Oval Office war Nawrocki bisher kaum jemandem aufgefallen. Laut seinen Wahlversprechen unterstützt er die liberale Wirtschaft, ist ein Gegner vertiefter EU-Integration und gegen eine Friedensmission der polnischen Armee in der Ukraine. Als ihn Polens Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski vor einem halben Jahr aus dem Hut zauberte, wusste selbst in der PiS-Partei kaum jemand, wer Nawrocki ist.
Die Spurensuche muss in den grauen Hinterhöfen des Danziger Arbeiterviertels Siedlce beginnen, wo Nawrocki mit seiner acht Jahre jüngeren Schwester Nina aufwächst und oft auf sich alleine gestellt, beginnt Fußball zu spielen und zu boxen. Kurz vor der Matura wird er Jugend-Schwergewichtsmeister. Nawrocki ist vom polnischen Heldentum im Zweiten Weltkrieg fasziniert und beginnt 2003 ein Geschichtsstudium, das er sich selbst als Türsteher verdient. 2008 schließt er das Studium ab und wird ein Jahr später als Historiker in der Danziger Außenstelle des „Instituts des nationalen Gedenkens“ (IPN), einer Art polnischen Gauck-Behörde, eingestellt.
In gewaltbereiter Fankurve mitgemischt
Diese zehn Jahre nach der demokratischen Wende gegründete mächtige Institution mit Hunderten Angestellten verwaltet und wertet die Akten der kommunistischen Geheimdienste aus, untersucht die deutschen und andere Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und kümmert sich um historisch-politische Bildung in Polen. Dazu gehört auch die Erinnerung an die ethnischen Säuberungen ukrainischer Nationalisten an der polnischen Zivilbevölkerung von Wolhynien im Jahre 1943. Bis zu 100.000 Polen wurden damals in den Gebieten, die seit der Westverschiebung Polens von 1945 in der Ukraine liegen, brutal ermordet.
Vier Jahre nach Arbeitsbeginn als IPN-Historiker und nach einem Doktortitel über den anti-kommunistischen Widerstand im Raum Danzig hat sich Nawrocki zum Direktor der lokalen IPN-Bildungssektion hochgearbeitet. In seiner Freizeit mischt er in der gewaltbereiten Fankurve des wegen seiner teils rechtsradikalen Anhängerschaft notorischen FC Lechia Gdansk mit, boxt und betreibt Kampfsport. „In Danzig lief alles im Unterschied zu anderen IPN-Sektionen glatt, nie gab es dort Probleme“, erinnert sich im persönlichen Gespräch eine Führungskraft aus der Zentrale in Warschau, die nicht genannt werden will. „Wir machten uns allerdings lustig über diesen Nawrocki mit seinem Boxen.“ Einmal habe er gar einen Boxwettkampf zu einem historischen Jahrestag vorgeschlagen.
Ambitioniert, hemmungslos – und emphatisch
Andere Mitarbeiter aus der IPN-Zeit Nawrockis äußern sich weniger positiv. Vor allem als IPN-Direktor ab Mitte 2021 muss sich der konservative Danziger Historiker und Box-Fan viele Feinde geschaffen haben. Nawrocki arbeitete 2009-2016 in der Außenstelle Danzig, wurde 2017 von der Kaczynski-Regierung zum Direktor des Danziger „Museums des Zweiten Weltkriegs“ ernannt und kehrte 2021 als Direktor ins IPN zurück, diesmal allerdings in Warschau.
„Spätestens in Warschau war klar, dass Nawrocki nach weit Größerem strebt“, sagt ein damaliger IPN-Mitarbeiter, berichtete aber auch, Nawrocki sei sehr fleißig und schnell lernfähig. „Nawrocki hatte keine Hemmung, seine Personalpolitik durchzuboxen“, kritisierte Professor Anton Dudek, ein ehemaliges IPN-Führungsmitglied mit unerfüllten Direktor-Ambitionen. Statt sich auf den öffentlichen Auftrag des Instituts zu konzentrieren, habe er das IPN zu einem Apparat für seine Eigenpromotion umgebaut, erzählt Dudek. „Das ist ein rücksichtsloser Mann, der alles für seinen Erfolg tut“, sagt Dudek. Ende 2024 warnte er vor Nawrocki als künftigem Staatspräsidenten. „Bei Nawrocki handelt es sich um einen der gefährlichsten Menschen, die in den letzten 30 Jahren in der polnischen Öffentlichkeit aufgetaucht sind“, warnte Dudek in Interviews.
Bei Nawrocki handelt es sich um einen der gefährlichsten Menschen, die in den letzten 30 Jahren in der polnischen Öffentlichkeit aufgetaucht sind
Diesem alarmistischen Bild widerspricht auf der konservativen Seite der in Polen völlig geteilten Medienlandschaft der Historiker Tomasz Szturo, 2017-2021 Nawrockis Stellvertreter als Museumsdirektor. „Für Nawrocki sind Gott und die Familie wichtig“, sagt Szturo dem PiS-freundlichen Portal wpolityce.pl. Es handle sich bei Nawrocki um einen „sehr empathischen“ Menschen, der sich um das Mitarbeiter-Los gekümmert und für sie gebetet habe, auch für ihn, berichtet der damals krebskranke Szturo.
Museumsausstellung der PiS-Geschichtspolitik angepasst
Tatsache ist indes, dass Karol Nawrocki nach der Übernahme der Museumsdirektion in Danzig 2017 radikal rund 60 Mitarbeiter entlassen und mit dem Umbau der vom international anerkannten Professor Pawel Machcewicz konzipierten Hauptausstellung des Museums des Zweiten Weltkriegs begonnen hatte. Dieser warf PiS vor, zu wenig patriotisch zu sein. Nawrocki ergänzte bis 2021 die Ausstellung um Heldenfiguren der Kaczynski-Partei wie Rittmeister Witold Pilecki (der freiwillig ins KZ Auschwitz gegangen war, um der Weltöffentlichkeit darüber zu berichten), Pater Maximilian Kolbe und die Judenretter-Familie Ulmow. Er machte dies indes auf eher leisen Sohlen. Kaczynski wusste diese Loyalität gegenüber der konservativen PiS-Geschichtspolitik zu schätzen.
„Nawrocki ist zu allem fähig“, klagte zu Nawrockis Zeit als Museumsdirektor dessen Mitarbeiter Mariusz Wojtowicz-Podhorski im Nachrichtenportal „Wirtualna Polska“. „Der Chef setzt auf Mobbing, intrigiert, schmückt sich mit fremden Federn. Er tut alles, um sich selber zu lancieren.“
Für diese Version könnte eine seltsame Begebenheit von 2018 sprechen. Ein gewisser Tomasz Batyr hatte damals eine Insider-Biografie über den Danziger Mafia-Paten „Nikos“ geschrieben. In einer TV-Sendung trat der Autor mit verfälschter Stimme und tief heruntergezogener Kapuze auf und sagte, Museumsdirektor Karol Nawrocki habe ihn zu diesem Buch inspiriert. Erst im Präsidentschaftswahlkampf 2025 wurde bekannt, dass Tomasz Batyr de facto Karol Nawrocki war. Batyr sei sein Pseudonym, erklärte der von PiS unterstützte Kandidat lapidar. Für viele Polen bleibt Nawrocki ein Rätsel.
Am 6. August wird er zum sechsten demokratisch gewählten Staatspräsidenten Polens vereidigt.
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