Das Viertel hat sich kaum verändert. Einfamilienhäuser, meist errichtet von der Arbed – ein typisches Refugium für „Schmelzaarbechter“. Die rue Henri Bessemer wirkt wie so viele Straßen in Differdingen: Leicht aus der Zeit gefallen und doch international, ganz ohne „Stater“ Hochnäsigkeit. Die Differdinger sind Menschen aus aller Welt gewöhnt: Über 120 Nationalitäten verstecken sich hinter den Fassaden. In der „Bessemer Strooss“ ist es nicht anders: Zwischen den Häusern von portugiesischen und italienischen Mitmenschen lebt neuerdings eine ukrainische Flüchtlingsfamilie – ein Ehepaar, zwei Kinder, zwei Babuschkas, Hund und Katze.
Es gibt an dieser Stelle zwei Möglichkeiten: Ihnen entweder trocken das Schicksal dieser Menschen zu erzählen, ohne Entstehungsgeschichte, oder in aller Transparenz zu beschreiben, wie das Tageblatt auf sie aufmerksam wurde. Letzteres wirkt ehrlicher und verrät nicht zuletzt, was sich derzeit wirklich in Luxemburg abspielt. Denn am Freitagabend (11.3.2022) meldet sich das Luxemburger Außenministerium zu Wort. Sinngemäß heißt es: Bringt nicht noch mehr Ukrainer nach Luxemburg. Es sei denn, ihr habt Platz bei euch zu Hause. Während also wieder mal der „primo-accueil“ aus allen Nähten platzt, die Migrationsbürokratie schleppt, ergreifen Zivilisten die Initiative. Zwei von ihnen: das Ehepaar Pantaleoni.
Claude Pantaleoni hat die Friedensinitiative „Ad Pacem servandam – Pour la paix et contre la guerre Asbl.“ gegründet. Er half bereits in den 1990er-Jahren einem ukrainischen Kinderkrankenhaus. Bis heute ist er tief mit der Ukraine verwurzelt. Es lässt sich mit ihm besonders gut darüber streiten, wie mit Putin umzugehen ist. Er argumentiert stets mit „bienveillance“, eine seltene Qualität. Während er inzwischen aus Überzeugung, aber auch aus Liebe zu seiner Frau Natalya und seinem Engagement in der Ukraine, nur noch an die militärische Lösung glaubt, bleibt sein alter Schüler den Prinzipien treu, die ihm einst in einem Escher Klassenzimmer vermittelt wurden: „Ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.“ Daher auch dieser Exkurs. Es wäre unehrlich, Ihnen in diesem Text vorzugaukeln, man könne vollständig Distanz halten. Umso mehr nachfolgende Anmerkungen in Sachen Transparenz.
Die ukrainische Familie, die Sie im Folgenden kennenlernen, ist auf Einladung des Ehepaars Pantaleoni nach Luxemburg gekommen. Claude stellt Ihnen sein ganzes Elternhaus in der „Bessemer Strooss“ zur Verfügung. Als Mensch fällt es einem unglaublich schwer, nach einer solchen Begegnung nicht nach Krieg und Aufrüstung zu rufen. Als unbeteiligter Beobachter werden aber die Gespräche, die das Tageblatt mit Denis Semianystyi (40), Anna Semianysta (35) und Veronika Shcherbyna (57) geführt hat, so gut kontextualisiert und gefactcheckt, wie es nur geht. Das sind wir unseren neuen Mitmenschen, aber auch der kritischen Öffentlichkeit schuldig. So können Sie auch besser nachvollziehen, warum Natalya Pantaleoni, genannt „Natascha“, z.B. ihre Wut und Irritation während der Übersetzungsarbeit nur schwer zurückhalten kann. Auch sie ist als engagierte Exil-Ukrainerin fester Bestandteil der Erzählung.
Freitag, 11. März 2022, 13.15 Uhr. Die Tür öffnet sich. Denis Semianystyi weiß nicht so recht, wohin mit den Besuchern. Ein fester Händedruck, ein englisches „Hello“. „Panta“ sagt, wir sollen ruhig ins Haus rein. Die Treppen hoch, schon wuseln eine Katze, die ältere Babuschka, Natascha und ein kleines Kind vorbei. Die Atmosphäre in der Küche fühlt sich wie angespannte Erleichterung an. Es ist ruhig. Wer gehört denn jetzt zur Familie Pantaleoni und wer ist aus der Ukraine geflüchtet? Die einfachste Lösung: Ein Familienfoto im „Living“ für den Überblick. Denis bleibt auf dem Sofa sitzen. Wir fangen mit ihm an, er muss noch weiter. In der Ecke sitzt Ehefrau Anna Semianysta auf dem Boden. Sie hat sich zu ihrem Hund ins Körbchen gesellt. Anna ist locker, Denis leicht verkrampft. Wir witzeln, die Anspannung legt sich.

Geboren im Donbass
Denis ist ein bulliger Mann mit sanftem Gemüt. Seine Hände sind zusammengefaltet, er presst sie vor den Körper. Mit ruhiger Stimme erzählt er – mehr als eine Stunde lang. Geboren wurde er in der Ostukraine im Donbass. Er spricht auch Russisch. Er lebte bis zu seinem 17. Lebensjahr in Lugansk. Danach zog es ihn nach Donezk. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und lebte bis 2014 ein anständiges Leben. Dann kam der Krieg. 2013 hatte er Anna geheiratet. Sie war hochschwanger, als die beiden Lugansk verlassen mussten. Damals konnte sich noch niemand vorstellen, was am 24. Februar 2022 passieren sollte.
Russland intervenierte bereits 2014 militärisch, als nach Massenprotesten der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch geschasst wurde. Moskau annektierte die ukrainische Halbinsel Krim. Der Krieg hatte weitreichende Folgen: Die europäische Friedensordnung wurde in Frage gestellt, die Ukraine als Spielball der Großmächte bei der Verhandlung sicherheitsstrategischer Fragen instrumentalisiert. Moskau stützte im Donbass prorussische Milizen und Separatisten. Putin destabilisierte das Land an seiner russischen Flanke. Die USA und die EU bestraften Russland wiederum mit Sanktionen. Die Minsker Abkommen und das sogenannte Normandie-Verhandlungsformat waren der Versuch, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Er wurde aber nur eingedämmt: Über 14.000 Menschen starben. Im Westen herrschte das Hirngespinst des „frozen conflict“. Bereits 2017 lud „Ad Pacem servandam“ Menschen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet nach Luxemburg ein. Einer von ihnen war Oleksij Savkevych. Der Ukrainer half Jugendlichen, den Krieg durch Musik zu verarbeiten. Er erzählte, wie Bombardements fast zur Normalität wurden. „Ich habe mein Fahrrad genommen und bin (nach den Angriffen) ein wenig herumgefahren.“ Man warf sich mit der Familie auf den Boden, bis es fertig war. Besonders markant: Am Pfeifen der Bombardierung habe er irgendwann erkannt, wie nah der Angriff sei. Fragt man Denis, ob er sich an den Krieg gewöhnt habe, wird es kurz unangenehm.
Natascha übersetzt. Sie wirkt irritiert. Denis weiß nicht genau, was gemeint ist. Er lacht kurz. Es klingt nach: „Wenn du wüsstest.“ Schließlich fragt sie: „Wie meinst du das?“ Nach dem kurzen Verweis auf die Anekdote von Oleksij sagt Denis: „Um das zu beantworten, muss ich ein wenig früher anfangen.“ Er erzählt vom Maidan 2013. „Revolution“, wie er sagt. 2014 sei der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch durch einen Volksaufstand gestürzt worden. Die Emotionen seien stark gewesen. Doch: „Jeder wusste, dass es damit noch nicht zu Ende war.“
Propaganda und Krieg
Denis ist ein selbstkritischer Mensch. Er versteht, wie nicht nur sein Umfeld, sondern auch er Opfer von Propaganda wurde: „Ich bin im Donbass aufgewachsen. Dort gibt es viele Menschen, die Russisch sprechen. Ich spreche auch Russisch. Darum schauen in diesen Gebieten viele Menschen russisches Fernsehen. Seit dem Maidan-Aufstand hatte das russische TV seinen eigenen Blickwinkel. Es wurden Infos gesendet, die der russischen Regierung dienten. Heute verstehen wir, dass die Propaganda damals am Werk war.“ Ob er das damals bemerkt habe? „Da unsere Familie für die ukrainische Unabhängigkeit ist, haben wir es damals verstanden. Aber noch nicht so stark wie jetzt.“ Besonders interessant wird es, wenn man ihn fragt, warum man die Propaganda am Anfang nicht direkt als solche identifizieren konnte. Er nimmt kurz Luft. Es folgt ein typisches Beispiel dafür, wie das russische Staatsfernsehen funktioniert. „Sie haben die Tatsachen verdreht. In den Sendungen nehmen sie oft Aufnahmen eines Ereignisses und vertexten es mit ganz anderen Inhalten.“ Er habe oft mit Mitmenschen darüber gesprochen. Wenn man die Inhalte im Internet überprüft habe, sei es oft das Gegenteil von dem gewesen, das die russische Propaganda behauptet habe.
Er nennt das Beispiel eines Brands in einem Gewerkschaftshaus. Das ukrainische Fernsehen habe einen Livestream davon gezeigt. Im russischen TV seien hingegen nur Ausschnitte davon gezeigt worden. Dort, wo im ukrainischen Fernsehen das Leid der Opfer zu sehen gewesen sei, seien im russischen TV applaudierende Ukrainer zu sehen gewesen. „Ich habe den Original-Livestream im Internet gefunden: Dort applaudierte kein Mensch. Die Zuschauer waren alle wie erschlagen.“ Wie kompliziert die Ereignisse rund um diesen Brand sind, zeigen die Ermittlungsakten der Vereinten Nationen. Im letzten Bericht von Matilda Bogner, Leiterin der UN-Menschenrechtsmonitoring-Mission in der Ukraine, wird eins klar: Es ist als Zivilist im Kriegsgebiet quasi unmöglich, die Wahrheit zu verstehen und nicht manipuliert zu werden. Was war passiert?
Brand im Gewerkschaftshaus
Im Zuge der Maidan-Proteste kam es in Odessa zu heftigen Zusammenstößen. Pro-Einheits-Gruppen und Separatisten gingen aufeinander los: 40 Männer, sieben Frauen und ein Junge starben. Seit über sieben Jahren laufen die Ermittlungen – bis heute ist nicht abschließend geklärt, was passiert ist. Laut UN begannen die prorussischen Kräfte mit der Provokation. Sie warfen Molotowcocktails auf die pro-ukrainischen Demonstranten. Die Situation geriet außer Kontrolle. Die ukrainische Polizei verlor die Kontrolle: Unklar ist, ob gewollt oder wegen schlechter Organisation. Am Ende hatten die pro-ukrainischen Kräfte die Oberhand, die Separatisten mussten sich im Gewerkschaftsgebäude in Odessa verschanzen. Weitere Molotowcocktails flogen aus beiden Richtungen, es wurde mit scharfer Munition geschossen. Im UN-Bericht heißt es, dass die Feuerwehr gerufen worden sei. Erst nach 45 Minuten sei sie aufgetaucht. In dieser Zeit starben alle 48 Menschen. Worauf Denis also anspielt: In der russischen Propaganda habe man Menschen gezeigt, die applaudierten, weil die Separatisten gestorben seien.
UN-Menschenrechtsexpertin Matilda Bogner schreibt in ihrem Bericht, dass Mitarbeiter der UNO gesehen hätten, dass pro-ukrainische Kräfte einigen Separatisten geholfen hätten, das Gewerkschaftshaus zu verlassen. Diese seien jedoch danach von einer tobenden Menge schwer zusammengeschlagen worden. Solche unklaren Geschehnisse sind perfekt für russische Kriegspropaganda und Verschwörungstheorien. Gleichzeitig helfen die Versäumnisse auf ukrainischer Seite Moskau: Bis heute liegen keine Ermittlungsergebnisse von ukrainischer Seite vor. Besonders heikel: Die Justiz versuchte, Separatisten einen fairen Prozess nach internationalen Standards der Rechtsstaatlichkeit zu gewähren. Daraufhin wurde Druck auf das Rechtssystem ausgeübt: Ukrainische Richter wurden Opfer von Gewalt pro-ukrainischer Kräfte. Dies ging so weit, dass z.B. ein Urteil, das fünf prorussischen Separatisten eine Freilassung gegen Kaution zusprach, wieder aufgehoben wurde – obschon dies nicht von der damaligen Rechtsprechung vorgesehen gewesen sei. Daneben wurde auch einem Separatisten-Anwalt mit Mord gedroht und bei einer Rangelei der Finger verstaucht. Die ukrainische Polizei und/oder Kameras waren laut UN bei solchen Vorfällen anwesend, die Ermittlungen blieben jedoch einfach offen. Diese „Straffreiheit“ habe dazu beigetragen, das Sicherheitsgefühl der ukrainischen Richter und Anwälte einzuschränken, sprich ihre Unabhängigkeit. Diese Aspekte werden heute im emotionalen Chaos des völkerrechtswidrigen Kriegs des Staatsterroristen Putin ausgeblendet.
Im Auto attackiert worden
Wenn also knapp acht Jahre später eine supranationale Organisation mit Profis vor Ort nicht einmal weiß, was los war, wie sollen Zivilisten zum Zeitpunkt der Geschehnisse durchblicken? Denis erzählt von seiner damaligen Alltagsrealität: „Es kam vor, dass ich meinem Nachbarn beweisen musste, dass das russische Fernsehen lügt. Es kam zu Streit – aber ohne Gewalt. Was bemerkenswert ist: Auch wenn man ihnen die Wahrheit sagt, glauben sie weiter an die Lügen. Da habe ich verstanden, wie stark diese Propaganda wirkt. Seit acht Jahren läuft diese Propaganda in den besetzten Gebieten: Sie schüren in Russland Hass gegen die Ukrainer. Darum sind auch viele Russen für diesen Krieg gewesen.“
Ob er selbst jemals in Lebensgefahr gewesen sei? Er zögert. Nimmt kurz Luft: „Da.“ Es klingt wie ein „Da-haaaaa“. Dann ein erleichtertes Ausatmen, ängstliches Lachen. Jeder im Raum lacht mit. Seine Frau Anna hört ruhig zu, schaut ihn an. Er überlegt kurz. Dann spricht er ruhig weiter. „Als klar wurde, dass es einen großen ukrainischen Widerstand gibt, haben die Russen angefangen, die russische Bevölkerung für Protestaktionen wie im Gewerkschaftshaus zu importieren. Sie provozierten dann bei Protesten. Zuerst haben sie Eier geschmissen. Dann grüne Arzneimittel, die nur schwer abwaschbar sind. Danach warfen sie Steine.“ Die Gewalt habe sich gesteigert. „Wir haben an drei Protesten teilgenommen, am vierten nicht mehr. Dann kamen nämlich Menschen ohne Uniform, aber mit Eisenstangen und Stöcken.“
Denis und seine Frau sind mit dem Auto im Stadtzentrum unterwegs. Bewaffnete kommen ihnen entgegen. Sie hätten schon vorher friedliche Demonstranten attackiert. „Wir hatten eine ukrainische Fahne auf dem Wagen. Dann wurde unser Auto angegriffen. Wir haben das nicht erwartet. Wir sind stehen geblieben. Sie haben dann mit Eisenstäben auf unser Auto geschlagen“. Seine Frau Anna reicht Denis die Handybilder. Das Seitenfenster ist eingeschlagen. „Einer dieser Stäbe ist im Auto stecken geblieben. Glücklicherweise saß meine Frau neben mir und nicht auf dem Rücksitz – sonst hätte man sie am Kopf stark verletzen können.“ Auf dem Foto sieht man einen eisernen Schlagstock auf dem Rücksitz liegen. Er sieht grob und primitiv aus.
Banderas langer Schatten
Wie sich Dennis damals gefühlt habe? „Die Russen drängten, damit die Ostukraine gegen die restliche Ukraine kämpft. Die Propagandamaschine lief. Aber in Wirklichkeit waren im Donbass nur sehr wenige Menschen bereit, gegen die Westukraine zu kämpfen. Das waren marginalisierte Menschen, die bereit waren, alles zu verkaufen. Es hat lange gedauert, diesen Hass und diese Feindschaft zwischen den Menschen aufzubauen.“ Ob er damals die Russen gehasst habe? „Ich erinnere mich, wie eine Gruppe Jugendlicher im Zentrum von Donezk herumlief. Sie hielten Stäbe und schrien: Die Menschen aus der Westukraine sind ’Banderowzy’. Sie wollen uns töten.“ Ob damit die Unterstützer Stepan Banderas gemeint seien? „Ja.“
Auch hier spielt die russische Propaganda eine schmutzige Rolle. Während Russlands Ex-KGB-Mann Putin den aktuellen Angriffskrieg gegen die Ukraine unter anderem mit der angeblichen Denazifizierung des Landes begründet, zeigen die Uni.lu-Historikerinnen Johanna Jaschik und Nina Janz, dass es sich dabei um historische Falschaussagen handelt. Sie weisen darauf hin, dass dieses Narrativ bereits bei den Euromaidan-Protesten von 2014 bemüht worden sei. Wenn Putin von „banderovskim“ spreche, sei ein historischer Bezug der ukrainischen Gesellschaft zur Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und zu einem ihrer berühmtesten Anführer, Stepan Bandera, gemeint. Die beiden Forscherinnen schrieben jüngst in einem Tageblatt-Gastbeitrag: „Die OUN war ein Zusammenschluss nationalistischer Kräfte im Westen der Ukraine im Europa der Zwischenkriegszeit, der sich 1929 als Folge der progressiven Integration von Ostgalizien (Westukraine) an Polen nach dem Ersten Weltkrieg und der stetig wachsenden Angst vor dem Einfluss sowjetischer Mächte bildete. Das, was alle Splittergruppen der Bewegung einte, war ihr Streben nach einem unabhängigen ukrainischen Staat, und als größten Gegner dieses Zieles sahen sie die Sowjetunion.“
Sie nuancieren und zeigen, wie diese nationalistischen Kräfte in der postsowjetischen Gesellschaft wahrgenommen wurden: „Mit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 hatte die OUN regional im Westen der Ukraine wieder an Bedeutung gewonnen, insbesondere für paramilitärische Gruppen, aus denen sich später politische Parteien formen sollten. Besonders seit den Maidan-Protesten 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbass nahm die regionale Signifikanz der OUN einen nationalen Charakter an und transformierte (sich) in ein Symbol für die ukrainische Unabhängigkeit und Demokratie. Im heutigen gesellschaftlichen und historischen Diskurs bleibt die OUN ein komplexes und kontrovers diskutiertes Thema, was besonders vonseiten Polens und der jüdischen Gemeinschaft genau beobachtet wird.“
Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt der ukrainische Historiker Volodymyr Masliychuk, der in einer exzellenten Abhandlung die Rolle des Nationalismus in der Ukraine beleuchtet. Er verdeutlicht, wie die Menschen für die von Denis beschriebene Propaganda im Donbass anfällig wurden: „Die Schwäche der ukrainischen Geschichtsschreibung und des ukrainischen Medienmarkts, die Eigenarten der staatlichen Politik, der Zerfall und Niedergang der Filmindustrie als Ergebnis der Wirtschaftskrise während der Übergangszeit, insbesondere aber die Schwäche der Öffentlichkeit und der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit haben dazu geführt, dass die ukrainische öffentliche Meinung für Propaganda und propagandistische Klischees sehr anfällig geworden und solchen auch ausgesetzt ist, besonders aus Russland, das versucht, seine imperiale Macht zu erhalten.“
Lüge: „Rückkehr des Faschismus“
Dass Denis also Jugendliche sah, die in den Gegnern des ukrainischen Föderalismus Nazis vermuteten, ist kein Zufall. Die Bandera-Parolen dienten während des Maidans-Protestes zum Teil nur als Element des Kampfes gegen den russlandhörigen Präsidenten Janukowitsch. Nachdem dieser beseitigt worden sei, habe der ukrainische Nationalismus keine Rolle mehr gespielt, schlussfolgert Historiker Volodymyr Masliychuk: „Kaum dass die Gefahr für die ukrainische Staatlichkeit und einer Entscheidung für Europa vorbei war, stimmte der Wähler nicht mehr für die Nationalisten. Gleichzeitig schuf die russische Propaganda ein sehr beeindruckendes ideologisches Bild der ’Rückkehr des Faschismus’ in die Ukraine.“ Diese unglaublich komplizierten Umstände haben dazu beigetragen, dass die Menschen in der West- und Ostukraine langsam, aber sicher gegeneinander ausgespielt wurden. Denis reagierte damals klug. Er seufzt. „Nach dem Angriff auf das Auto sind wir noch ungefähr fünf Monate in Donezk geblieben. Was passierte, war nicht logisch für uns. Aber wir sahen, dass sich die Situation verschlechterte.“
Spätestens als die Tschetschenen in großen Lkws angekommen seien, habe er gewusst, dass es ernst wird: „Irgendwann sind wir zu Hause rausgefahren und haben die Panzerspuren auf der Straße gesehen. Dann haben wir verstanden: Es ist Zeit, hier wegzugehen. Es war außerdem, als der MH17-Flug abgeschossen wurde (298 Menschen starben, von Russland unterstützte Separatisten werden dafür verantwortlich gemacht; Anm. d. Red.). Der Absturz erfolgte ungefähr 15 Kilometer von meinem Geburtsort.“ Denis und seine Familie laden alles, was sie können, ins Auto und nehmen den Hund mit. Ihr Ziel: die russischsprachige Familie in Odessa. Die Hoffnung: Nach zwei, drei Monaten lege sich wieder alles. „Dann griff die ukrainische Armee an. Damals war sie sehr schwach. Sie hatte aber viele Erfolge. Sie wurde von der Bevölkerung unterstützt. Dann wurde sie zurückgedrängt. Das waren nicht die Separatisten, sondern die reguläre russische Armee. (…) Dann war für uns klar, dass es nicht so schnell enden wird. Wir hatten Verwandte in Pawlohrad. Das ist mitten in industriellem Gebiet. Dort haben wir versucht, ein neues Leben anzufangen.“ Anna ist zu diesem Zeitpunkt hochschwanger. Der Gynäkologe in Pawlohrad mahnt: „In diesem Gesundheitszustand war es absolut verboten, umzuziehen oder irgendwo hinzufahren – das sei höchst gefährlich gewesen.“
Die Flucht im Landesinneren
Das Leben als Binnenflüchtling ist brutal. „Als wir nach Pawlohrad gezogen sind, hatten wir fast gar nichts mehr. Manchmal hatten wir nur Geld für heute – und nichts mehr für morgen. Und auch keine Windeln.“ Die Ersparnisse reichten für zwei Monate. Denis suchte vergeblich nach Arbeit. Anna ruft etwas aus der Ecke. Sie lacht. Denis antwortet. Übersetzerin Natascha schmunzelt und sagt: „Mit dem Wirtschaftsdiplom findet man gar nichts. Denis hat nach der Uni auch eine Berufsschule abgeschlossen, um Maurer zu sein. Allerdings wollte niemand in der Ukraine bauen – ich konnte keine Arbeit finden.“ Anna sagt erneut etwas. Es ist eines der wenigen Male, dass die beiden gemeinsam kichern. Anna strahlt übers ganze Gesicht. Der Blick zu Natascha, was sagt Anna zu Denis? „Sie sagt: Du musst zugeben, dass deine letzte Bauarbeit in Donezk war. Du hast den Donezker Flughafen mitaufgebaut.“ Anna lacht. Es ist Galgenhumor: Der neue Flughafen, der im Zuge der Fußball-Europameisterschaft 2012 aufgebaut wurde, liegt inzwischen in Schutt und Asche. „Ich habe den Parking mitaufgebaut“, sagt Denis. „Er wurde aber nie in Betrieb gesetzt. Später habe ich Fotos davon gesehen. Mit einem Raketeneinschlag. Und dann hatte ich kein Geld mehr.“
Ob er sich damals je hätte vorstellen können, dass die Russen wie heute in der gesamten Ukraine und nicht nur im Osten einfallen würden? „Hooooho, njet.“ Man versteht Denis auch ohne Übersetzung. Es ist das einzige Mal, dass der gefasste Mensch viel Emotion zeigt. „Ich war einen Monat vor der Invasion in Europa. Ich hatte Angst um meine Familie. Ich hörte all diese Gerüchte, aber glaubte es nicht bis zum letzten Moment.“ Denis ist in Deutschland, um bei Freunden zu arbeiten. Danach soll er in die Ukraine zurückkehren, fährt aber noch zu Bekannten nach Belgien. Er will dort eine Woche lang helfen. „Weil ich zu ihnen gefahren bin, musste ich nicht in den Krieg. Wäre ich nicht zu meinen Freunden gefahren, wäre ich in die Ukraine zurückgekehrt.“ Die Historikerin und Übersetzerin Natascha wirkt leicht genervt. Sie merkt von sich aus an: „Also Krieg ist schon seit acht Jahren. Dann kam der große Angriff.“ Denis ergänzt: „Ja, jetzt hätte ich aber keine Gelegenheit mehr gehabt, das Land zu verlassen.“

Die Flucht nach Luxemburg
Wie Denis seine Familie denn aus der Ukraine geholt habe? Er blickt auf seine Frau: „Das ist meine Heldin.“ Es ist ein bitter-schöner Moment. Dennis wirkt inzwischen sehr bedrückt. „Anna ist 24 Stunden Auto gefahren – von Pawlohrad durch die ganze Ukraine. Dann stand sie vier Tage lang an der Grenze in der Schlange.“ Zum Vergleich: Das ist so, als ob ein Luxemburger Flüchtling 1.700 Kilometer nach Madrid fahren müsste, um schließlich vier Tage im Stau zu stehen. Die Ukraine hat eine Fläche von rund 600.000 Quadratkilometern. Sie ist damit größer als zehn der kleinsten EU-Mitgliedsstaaten zusammengezählt. „Die ganze Reise mit zwei Kindern, zwei Babuschkas und mit Katze und Hund“, wiederholt Denis.
Als wäre dies nicht hart genug, muss die Familie in einem 15 Kilometer langen Stau an der Grenze ausharren. Denis redet langsamer, pausiert länger … kurzes Schnalzen, leises Schlucken … einatmen, ein brüchiges „haaa“. Er nimmt noch mal seinen Mut zusammen. Doch jetzt erzählt Anna. Sie merkt, wie schwer es ihm fällt. „Beim Übergang erhalten diejenigen Personen Priorität, die zu Fuß kommen. Sie laufen draußen in der Kälte. Für sie ist es noch viel härter. Sie stehen 15 Kilometer in der Schlange: zu Fuß, im Regen, im Schnee.“ Flüchten viele Menschen zu Fuß? Anna versteht die Frage: „Yeeees. Yeees. It was awful.“ Denis antwortet: „15 Kilometer ist noch eine kleine Schlange. Es gibt Übergänge, wo der Stau doppelt so lang ist. Es gab Tage, wo es von Lwiw bis zur Grenze staute: Das sind 100 Kilometer.“ Zum Vergleich: Luxemburgs Nord-Süd-Ausdehnung liegt etwa bei 82 Kilometern – der Stau war also länger als das Großherzogtum.
Anna übernimmt noch einmal. „Denis ist von Belgien zur polnisch-ukrainischen Grenze gefahren. Die erste Stadt hinter der Grenze war das polnische Przemyśl. Er hat dort vier Tage lang auf uns gewartet. Wir warteten auf der anderen Seite in der Schlange. Oft gab es kein Internet, keine Verbindung. Ich wusste ungefähr, in welchem Gebäude Denis auf uns warten würde. Ich konnte ihn aber nicht telefonisch erreichen. Er wusste nicht, wo wir sind. Wir haben uns erst in dem Gebäude wiedergesehen.“
Wie viel Angst hatte Denis um seine Frau? Übersetzerin Natascha zögert leicht. Dann fragt sie ihn. Er kriegt einen Satz raus, es wird ihm zu viel. Wieder Denis’ trauriges „A ha ha“. Anna antwortet: „Ich glaube, wir sind noch nicht richtig angekommen. Emotional. Wir haben unsere Emotionen blockiert.“
Lesen Sie am Dienstag (15.3.) Annas Sicht auf die Flucht nach Luxemburg, ihr neues Leben und warum sie kein Flüchtling sein will.

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