Wäre Kerstin Medingers „Le secret de Tadi“ (Editions Phi, 2024) ein Gericht, würde die Zutatenliste bis zum Boden reichen. Die Autorin greift tief in die Beziehungskiste, rollt Familiengeschichten auf, beschreibt eine filmreife Entführung. Dafür schickt sie ihre Figuren auf Reisen – vom Müllerthal bis in die Vereinigten Staaten: Das Ehepaar Lucie und Simone reist in die USA, um dem Exfreund von Manon eine Lektion zu erteilen; die zerstrittenen Turteltäubchen Isabelle und Tomás brechen nach Las Vegas auf, um eine heikle Erbschaftsgeschichte zu klären. Nebenhandlungen, die u.a. um die Vergangenheit des Autors Tadi Richard und seine Verflossene Nakry Cheng kreisen, ergänzen die Geschichte. Ist das auf knapp 280 Seiten zu viel des Guten? Jein, denn der Roman ist ein „page-turner“.
Zur Autorin
Kerstin Medinger (1984, Luxemburg) ist Spanisch- und Französischlehrerin am „Lycée technique Ettelbruck“. Zuvor war sie u.a. Korrektorin, Lektorin und Übersetzerin bei Editions Tallandier in Paris sowie die Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit beim Radiosender 100,7. Sie beteiligte sich an mehreren Schreibworkshops, beispielsweise bei Eric-Emmanuel Schmitt. Le „secret de Tadi“ ist ihr zweiter Roman, erschienen bei Editions Phi.
Zwei Schritte vor, einer zurück
Medinger pfeift auf eine lineare Erzählung, stattdessen schiebt sie den Regler vor und zurück, springt von einem Jahrzehnt zum nächsten. Vom Rhythmus her hat das etwas von „Echternacher Springprozession“, ermöglicht es der Autorin jedoch, Zusammenhänge offenzulegen und die Lesenden bei der Stange zu halten. Langweilig ist „Le secret de Tadi“ nie, für Romantikmuffel höchstens einen Tick zu kitschig.
Neben gebrochenen Herzen erzählt Medinger in dem Buch aus der Vergangenheit, zeichnet gleichzeitig eine vage Zukunftsvision, streut links und rechts Verweise auf die Weltliteratur ein. Hinzu kommt ein wahres Potpourri der Genres: Während sich das Abenteuer von Lucie und Simone wie ein Comedy-Krimi und die Handlung rund um Isabelle und Tomás wie die Folge einer Telenovela liest, hätte die Story um Tadi und Nakry das Zeug zum Sozialroman.

„Rote Khmer“ und mutige Seniorinnen
Chengs Familiengeschichte erlaubt einen Blick auf die Geschichte von Kambodscha: auf den Bürgerkrieg Ende der 1960er-Jahre, auf den Sieg der Bewegung „Rote Khmer“ und deren Gräueltaten gegen die Bevölkerung. Noch dazu ist Cheng alleinerziehende Mutter, die ihre Rechnungen durch einen Job im Casino begleicht. Im starken Kontrast dazu steht eine fade Figur wie Manon, die aus Herzschmerz das Leben der betagten Lucie und Simone aufs Spiel setzt.
Für das Pärchen gebührt Medinger übrigens Lob: Aktive Seniorinnen – noch dazu lesbische! – sucht man in der Literatur oft wie die Nadel im Heuhaufen. In „Le secret de Tadi“ entpuppen sie sich hingegen als couragierte Damen, die vor keiner Gefahr zurückschrecken und die Hand über ihre Schützlinge halten. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt für den Großteil der Figuren, die bei ihnen Rat und Zuflucht suchen. Im Interview mit RTL sagte Kerstin Medinger vor Kurzem: „Familie sind die Menschen, die wir uns aussuchen.“ Das zu vermitteln, gelingt ihr gut. Wer tiefer in die Wahlfamilie um Lucie und Simone eintauchen will, sollte neben „Le secret de Tadi“ ebenfalls „Le départ“ von der Autorin lesen: Das Buch gilt als Vorgeschichte, doch ergeben beide Romane auch einzeln Sinn.
Also?
Die Lektüre der Neuerscheinung lohnt sich jedenfalls für alle, die auf Unterhaltungsliteratur mit dem gewissen Extra stehen. Medinger setzt darin nämlich um, was sie in einem Gespräch mit dem „Lycée des arts et métiers“ als Schreibmotivation benennt: „Geschichten ze deelen, fir hinnen eng Chance ze ginn, an anere Käpp weiderzeliewen, fir datt se net verluer ginn.“
De Maart

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