ForumChristine Lagardes Geschenk an die Populisten

Forum / Christine Lagardes Geschenk an die Populisten
 Foto: AFP/Simon Wohlfahrt

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Als Präsidentin der Europäischen Zentralbank hat Christine Lagarde drei Fehler gemacht. Damit könnte sie den europaweiten Aufschwung des Rechtspopulismus zwar nicht verursacht, aber doch erheblich verstärkt haben.

Ihr erster Fehler hat nicht nur den italienischen Staat Milliarden, sondern auch die EZB einen Großteil ihres guten Rufs gekostet, an dem Mario Draghi, Lagardes Vorgänger, so hart gearbeitet hat. Erinnern wir uns an den März 2020: Die Welt hatte Angst vor der Pandemie, die Märkte reagierten panisch. Insbesondere sorgten sie sich um die Solvenz Italiens, eines Landes mit enormen Schulden und ohne eigene Zentralbank, die – nach dem Vorbild der US-Federal-Reserve, der japanischen Notenbank und sogar der Bank of England – Geld hätte drucken können.

Auf einer Pressekonferenz wurde Lagarde gefragt, ob die EZB den Italienern bei ihrem Schuldenproblem beistehen würde, um die Zins-Spreads (die unterschiedlichen Kreditkosten der einzelnen Mitgliedsländer) innerhalb der Eurozone gering zu halten. Mit ihrer Antwort hat sie die Märkte und die Öffentlichkeit nicht etwa dadurch beruhigt, dass sie Draghis berühmtes Versprechen wiederholt hätte, zu tun, „was immer nötig“ sei. Im Gegenteil, sie erklärte: „Wir sind nicht dazu da, um Zinsunterschiede auszugleichen.“ Innerhalb weniger Sekunden schossen die Kosten zur Bedienung der italienischen Schulden in die Höhe. Die italienische Regierung schäumte vor Wut, aber Giorgia Meloni, die populistische Oppositionsführerin, die danach Ministerpräsidentin wurde, war zweifellos höchst erfreut.

Kein Vorgehen gegen gierige Banker

Der zweite Fehler war weniger offensichtlich, hatte aber schwerere und langfristigere Folgen: Seit dem Crash von 2008 hatte die EZB die anfälligen europäischen Banken immer wieder mit Geld überhäuft – in der Hoffnung, sie würden es ihrerseits an Unternehmen verleihen und damit die schwächelnde europäische Wirtschaft wiederbeleben. Nach 2014, als die Leitzinsen negativ waren, hat die Zentralbank die Banker letztlich dafür bezahlt, Hunderte Milliarden Euro auf ihren EZB-Konten zu parken. Aber anstatt dieses Geld weiterzugeben, haben es die Banken einfach dort gelassen und weiterhin die Bestechungsgelder eingestrichen, die sie von der EZB in Form negativer Zinsen erhielten.

Nun, nachdem die Inflation rasant zurückgekehrt ist, lassen dieselben Banker weiterhin Milliarden in ihren EZB-Konten liegen, um die höheren Zinsen zu kassieren, während sie wiederum ihre eigenen Anleger mit minimalen Zinsen abspeisen. Aber anstatt die Macht der EZB dazu zu nutzen, diesen Bankern ordentlich Angst einzujagen, hat Lagarde ihnen erlaubt, die Zentralbank auf Kosten kleiner Unternehmen und Kontoinhaber an der Nase herumzuführen.

Auch dies hat direkt in die Hände populistischer Politiker wie Meloni gespielt, die politisches Kapital daraus schlagen konnte, eine Übergewinnsteuer für Banken einzuführen. Schlimmer noch, Lagarde und die EZB haben auf diesen Vorschlag reagiert, indem sie für die Banken Partei ergriffen haben. Ich zumindest kann mir keine effizientere Art vorstellen, die Rechtspopulisten in Italien und anderswo attraktiver zu machen.

Inflationsverluste der Arbeitnehmer

Lagardes dritter Fauxpas war ihre schleppende Antwort auf die steigende Inflation, was eine lange Folge spektakulär falscher EZB-Prognosen widerspiegelt. Fairerweise muss man sagen, dass es auch zu Draghis Zeit katastrophale Prognosen gab, während das 2%-Inflationsziel der EZB immer wieder verfehlt wurde. Aber sein Drachen, den er nicht besiegen konnte, war die Deflation (negative oder sehr niedrige Inflation), die ihn zwang, die Zinsen zuerst auf null und dann auf minus 0,5% zu senken.

Diese ultralockere Geldpolitik machte ihn zum Hassobjekt deutscher Sparer – und insbesondere der sprichwörtlichen „schwäbischen Hausfrauen“. Aber die meisten Arbeitnehmer in Deutschland und anderswo bemerkten dies kaum, da ihre (inflationsbereinigten) Reallöhne von der Deflation nicht betroffen waren und sie nur wenig Erspartes hatten.

All dies änderte sich unter Lagarde, als die Inflation massiv anstieg. Letztere trifft – im Gegensatz zur Deflation – die gesamte Bevölkerung, insbesondere Arbeitnehmer und Haushalte der Mittelklasse, die finanziell kaum noch über die Runden kommen. Zentralbanker, die dies nicht vorhersehen, treffen daher auf den Widerstand aller gesellschaftlichen Schichten. Dies haben wir in den 1970ern erlebt, und heute erleben wir es wieder – und diesmal ist es sogar noch schlimmer.

Damals waren die Gewerkschaften stark genug, um die Inflationsverluste der Arbeitnehmer durch höhere Lohnabschlusse auszugleichen. Und da die weibliche Beteiligung am Arbeitsmarkt immer noch gering war, konnten die Haushalte ihren Lebensstandard halten, indem die Frauen arbeiten gingen.

Heute hingegen sind die Gewerkschaften nur noch ein Schatten ihrer selbst, und die meisten Frauen nehmen bereits am bezahlten Arbeitsmarkt teil. Die Arbeitslosigkeit mag niedrig sein, aber da die Preise nun seit zwei Jahren steigen, hat die Kaufkraft viel stärker gelitten als in den 1970ern.

In dieser Hinsicht hatte Draghi Glück, zumindest verglichen mit Lagarde. Sein politischer Werkzeugkasten hat unter Deflationsbedingungen recht gut funktioniert, da die EZB zumindest so tun konnte, als ob das Ziel ihres unbegrenzten Gelddruckens nicht die Rettung Italiens gewesen sei (was laut ihrer Satzung formal verboten ist), sondern zu gewährleisten, dass die niedrigen (und häufig negativen) Zinsen alle Teile der Eurozone erreichen.

Lagardes Dilemma – und seine Folgen

Lagarde hingegen wurde zu Beginn ihrer Amtszeit vom Glück verlassen, als die pandemiebedingten Unterbrechungen der Lieferketten die Inflation ins Rollen brachten. Verschärft wurde dieses Problem dann noch vom russischen Präsidenten Wladimir Putin, der in die Ukraine einmarschierte und damit eine schlimme Energiekostenkrise auslöste. Bald stand Lagarde vor einem grausamen Dilemma: Entweder konnte sie die Zinsen unter 5% halten, die Inflation laufen lassen und unbeabsichtigt nach der Pfeife der rechten euroskeptischen deutschen Oppositionspartei Alternative für Deutschland (AfD) tanzen. Oder sie konnte die Zinsen auf ein Niveau erhöhen, das zwar die Inflation bezwingen, dabei aber den italienischen Staat – ebenso wie viele europäische Banken und Konzerne – in den Bankrott stürzen würde. Sie entschied sich, diese Entscheidung zu verzögern, fiel dabei aber zwischen den zwei Stühlen, auf die sie sich setzen wollte, hindurch.

Hätte Lagarde anders handeln können? Wie ich damals argumentiert habe, ja: Sie hätte die Zinsen früher erhöhen können, um die Immobilienblase zum Platzen zu bringen. Außerdem hätte sie den Staaten, der Europäischen Kommission, der Europäischen Investitionsbank oder gar Privatunternehmen Anleihen abkaufen (oder dies zumindest ankündigen) können, um die Erlöse ausschließlich zur Finanzierung eines öffentlichen grünen Investitionsprogramms zu verwenden. Stattdessen hat sie ihre Energie und ihr politisches Kapital verschwendet, indem sie die Kollateralpolitik der EZB auf fragwürdige ESG-Verpflichtungen ausgerichtet hat. Dies hat nicht dazu beigetragen, das Angebot an sauberen Energien zu erhöhen, als dies am nötigsten gewesen wäre.

Mehr noch: Statt sich dafür einzusetzen, die EU-Verträge dahingehend zu ändern, dass die EZB unsere Regierungen nicht immer unbedingt solvent halten muss, hielt sie törichte Reden, in denen sie andeutete, der Dollar könnte in seiner Funktion als Weltreservewährung bald ersetzt werden.

Wo stehen wir jetzt? Dass Lagarde nicht nur unfähig, sondern auch eingebildet ist, hat dazu beigetragen, den politischen Aufschwung der AfD in Deutschland, Melonis in Italien, der rechten Vox-Partei in Spanien usw. zu fördern. Alles, was wir jetzt tun können, ist hoffen, dass sich diese Parteien selbst so inkompetent verhalten, dass sie ihren Vorsprung bis zu den europäischen Parlamentswahlen wieder verlieren.


Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

Copyright: Project Syndicate, 2023.

www.project-syndicate.org

Yanis Varoufakis, ehemaliger Finanzminister von Griechenland, ist Vorsitzender der MeRA25-Partei und Professor für Ökonomie an der Universität von Athen
Yanis Varoufakis, ehemaliger Finanzminister von Griechenland, ist Vorsitzender der MeRA25-Partei und Professor für Ökonomie an der Universität von Athen Foto: Thanassis Stavrakis/AP/dpa
Phil
23. Oktober 2023 - 22.12

Lagarde hat in ihrer Amtszeit als französische Finanzministerin fahrlässig zugelassen, dass Dritte Staatsgelder veruntreuen. Eine Strafe erhielt sie jedoch nicht. Im Verfahren ging es konkret um eine Entschädigung von 400 Millionen Euro aus Staatsgeldern für den Geschäftsmann Bernard Tapie, die ihm ein Schiedsgericht zugesagt und Lagarde genehmigt hatte. Lagarde wurde wie auch Frau von der Leyen, nicht auf ihren Posten gewählt sondern von Präsident Macron resp. Kanzlerin Merkel "berufen".

JJ
10. Oktober 2023 - 9.21

"Dass Lagarde nicht nur unfähig, sondern auch eingebildet ist,.." Frisches Blut wäre nicht schlecht in der Position.Nur Päpste bleiben bis sie umfallen.Aber auch da gab's ja eine Ausnahme wenngleich dieselbe Ursache.Unfähigkeit und Arroganz.