Interview„Bye Büroarbeit, ich fahre zum ESC!“ – Tali über Identität, Antisemitismus und das Halbfinale

Interview / „Bye Büroarbeit, ich fahre zum ESC!“ – Tali über Identität, Antisemitismus und das Halbfinale
Selbst die jüngste Welle von Hasskommentaren konnte Talis Enthusiasmus nichts anhaben: „Ich bin hier, um Musik zu machen, und wer ein Problem mit mir hat, soll mir nicht folgen“ Foto: Editpress/Julien Garroy

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Gut einen Monat ist es her, dass Tali Golergant mit „Fighter“ den Luxembourg Song Contest für sich entscheiden konnte. Doch Ausruhen steht nicht auf dem Programm, denn der Eurovision Song Contest rückt immer näher. Das Tageblatt hat die junge Künstlerin bei einem Fotoshooting begleitet und sich mit ihr über kommende Projekte sowie die Welle an Hasskommentaren, die ihr nach ihrem Sieg entgegenschlug, unterhalten.

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Tageblatt: Tali, Sie haben in den vergangenen Wochen sicherlich viele neue Erfahrungen gemacht und Eindrücke gesammelt. Wie fühlen Sie sich jetzt?

Tali: Körperlich geht es mir gut. Ich habe mir ein Laufband gekauft, auf dem ich versuche, gleichzeitig zu singen und zu laufen – so wie Taylor Swift. Auch geistig geht es mir gut. Ich fühle mich viel ruhiger. Am Anfang überwältigten mich ein bisschen die Emotionen. Jetzt fange ich aber so langsam an, mich wieder zu ordnen, und ich freue mich darauf, die kommenden zwei bis drei Monate anzugehen.

Die Nervosität stieg also hauptsächlich direkt nach Ihrem Sieg beim Luxembourg Song Contest (LSC) in Esch auf?

Oh, ja. Als ich erfuhr, dass ich gewonnen hatte, war ich schockiert. Ich hatte das nicht erwartet. Die Wahrscheinlichkeit lag ja bei zwölf Prozent. Mental bereitet man sich darauf vor, zu verlieren, dann ist man im Nachhinein auch nicht traurig und enttäuscht. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich hier bin und mit euch rede. Ich versuche einfach, jeden Moment zu genießen, denn ich weiß, dass es nicht für immer so sein wird.

Steckbrief

Tali Golergant wurde als Tochter eines Peruaners und einer Israelin in Jerusalem geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie zunächst in Argentinien und Chile, bevor sie sich im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie in Luxemburg niederließ. Nach ihrem Schulabschluss an der International School of Luxembourg zog Tali in die Vereinigten Staaten, um dort zu studieren und sich auf ihre Musik- und Schauspielkarriere zu konzentrieren. Für ihre Teilnahme am Luxembourg Song Contest gab sie ihre Arbeit als Gesangslehrerin in New York auf.

Was haben Sie in den vergangenen Wochen gemacht?

Ich bin vorletzte Woche für fünf Tage nach New York geflogen, um meinen Büroschlüssel zurückzugeben. Ich habe dort vorher als Musiklehrerin gearbeitet. Aber jetzt heißt es: „Bye-bye Büroarbeit, ich fahre zum Eurovision!“ (lacht) Ich habe auch meine Wohnung in New York ausgeräumt. Davor hatte ich noch ein Fotoshooting und habe ein paar Interviews gegeben. Ich ging dann auch noch zu RTL, um gemeinsam mit allen Finalisten einen Rückblick auf den Luxembourg Song Contest zu machen. Es war wirklich schön, alle wiederzusehen. Danach sind wir essen gegangen und haben sogar einen Karaoke-Abend organisiert. Und ich hatte eine Menge Besprechungen über Styling, Anwälte und so weiter. Jede Menge Planung also.

Was können wir von Ihrem Song, Ihrer Bühnenperformance und Ihrer Garderobe in Malmö erwarten? Gibt es Änderungen?

Ja, alles wird sich ändern, was wirklich aufregend ist. Die Garderobe wird verändert, die Inszenierung auch. Das Grundkonzept bleibt zwar gleich, es wird immer noch Tänzer geben, es wird immer noch kraftvoll sein, aber ansonsten wird es nicht mehr derselbe Auftritt sein. Ich darf noch nicht wirklich viel verraten, aber es wird auch Änderungen in der Produktion des eigentlichen Songs geben. Wir werden den Song neu veröffentlichen, damit er noch besser wird. Die alte Version bleibt aber bestehen.

Was sind Ihre Erwartungen und Ziele für den Eurovision Song Contest?

Ich möchte wirklich, dass Luxemburg es ins Finale schafft. Aber wird ein hartes Halbfinale werden. Die beste Performance wird sich qualifizieren und ich hoffe, dass meine dabei sein wird. Sollte ich das Finale erreichen, wäre ich natürlich sehr glücklich. Wenn wir unter die Top 15 oder sogar Top 10 kommen, wäre das großartig. Ich bin optimistisch, aber ich bin auch ein Realist. Ich werde einfach mein Bestes geben und sehen, was passiert.

Der ‚Hate‘ war hart für mich, aber zu erwarten

Tali Golergant , Luxemburger ESC-Kandidatin

Der ESC rückt immer näher. Setzt Sie das unter Druck?

Ich stehe die ganze Zeit unter Druck. Ich vertrete schließlich ein Land, das 31 Jahre lang nicht am Wettbewerb teilgenommen hat. Das ist eine große Herausforderung. Ich glaube aber, dass der eigentliche Druck auftreten wird, wenn wir in Kopenhagen landen. Erst dann, wenn wir nach Malmö aufbrechen und ich alle großen Stars wie Slimane und Olly sehe, wird es sich bemerkbar machen.

Frohnatur Tali Golergant
Frohnatur Tali Golergant Foto: Editpress/Julien Garroy

In einem Interview mit dem Luxemburger Wort haben Sie erwähnt, dass Sie mit anderen Finalisten des Luxembourg Song Contest zusammenarbeiten werden. Gibt es da bereits konkrete Pläne?

Joel (Marques, Anm. d. Red.) und ich haben etwas geplant. Das ist wirklich cool, ich liebe seine Stimme und ich mag ihn wirklich sehr. Er ist großartig. Aber wir haben den Song noch nicht geschrieben. Mein Leben ist gerade so hektisch mit dem Eurovision Song Contest, dass wir wahrscheinlich erst im Sommer mit dem Schreiben anfangen werden.

Sind Sie noch in Kontakt mit den anderen Finalisten des LSC?

Ja, mit allen. Ich habe vor, sie zum Abendessen zu mir nach Hause einzuladen. (lacht) Wir stehen uns alle sehr nahe. CHAiLD und ich sprechen fast jeden Tag miteinander. Der LSC war eine tolle Erfahrung. Ich hoffe, dass es in Malmö genauso sein wird. Alle haben mich unterstützt und waren so nett zu mir. Das hat es viel einfacher gemacht.

Meine Heimat ist Luxemburg. Und auch wenn die Leute das nicht verstehen wollen, können sie nicht leugnen, was ich fühle.

Tali Golergant , Luxemburger ESC-Kandidatin

Was können wir in Zukunft von Ihnen erwarten, unabhängig vom ESC?

Ich bin dabei, bei einem Label zu unterschreiben, was wirklich aufregend ist. Es ist dasselbe Label, das „Fighter“ herausgebracht hat. Wir werden eine EP und ein Album produzieren. Wenn alles gut läuft, werde ich anfangen, zu touren, und noch mehr Musik veröffentlichen. Ich hoffe, dass der ESC mir dabei helfen wird, sodass ich nicht wieder zu einem Bürojob zurückkehren muss. (lacht) Auch wenn ich gerne unterrichte: Mein Ziel ist es, weiterhin Musik zu machen. Außerdem bin ich Schauspielerin. Hoffentlich kann ich diesen Schwung also auch nutzen, um in die Film- und Theaterwelt einzusteigen.

Schreiben Sie Ihre Songs selbst?

Ja, ich schreibe jeden Song auf der EP selbst. Mein Label glaubt auch wirklich an meine Fertigkeiten als Songwriter. Das, obwohl ich „Fighter“ nicht selbst geschrieben habe. Ich wünschte, ich hätte es. (lacht) Ich liebe den Song.

Macht es für Sie einen Unterschied, einen Song aufzuführen, der nicht aus Ihrer eigenen Feder stammt?

Normalerweise ja. Aber ich bin sehr wählerisch. Für den LSC wurden mir vier Songs vorgeschlagen. Ich habe alle abgelehnt. Erst danach bekam ich „Fighter“. Ich nehme nur Lieder an, mit denen ich mich wirklich verbunden fühle, wenn ich sie nicht selbst schreibe. Das Gleiche gilt für Theater und Film. Alles, was ich tue, muss mich begeistern und berühren. Denn wenn man etwas nicht mit Leidenschaft tut, spüren die Leute das. Und dann ist es die Zeit nicht wert.

Sie bleiben sich mit Ihrer Kunst selbst treu.

Genau, auch wenn es verschiedene Versionen von mir gibt. Beim ESC werde ich beispielsweise tanzen. Aber normalerweise bin ich am Klavier und meine Musik ist ein bisschen akustischer. Es ist wie bei Lady Gaga: Sie singt „Just Dance“, aber dann spielt sie „A Million Reasons“ auf einem Klavier. Das ist so cool und ich hoffe, dass ich auch so sein werde: dass es verschiedene Versionen von mir gibt. Diese aber entsprechen alle dem, was ich bin.

Rassismus und Boykott-Aufruf in den sozialen Medien

Talis Sieg beim Luxembourg Song Contest löste eine Welle an Hasskommentaren in den sozialen Netzwerken aus. Sie wurde mit Kommentaren überschwemmt, in denen unter anderem behauptet wurde, sie sei eine Zionistin, unterstütze den Terrorismus und habe der Zweitplatzierten, Krick, den Sieg gestohlen. Obwohl Tali die luxemburgische Staatsbürgerschaft besitzt, empörten sich viele Nutzer darüber, dass sie keine „richtige“ Luxemburgerin sei. Im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt, dem Siegersong „Fighter“ und dem israelischen Unternehmen „Eshkoli Productions“, das den LSC mit RTL organisiert hat, riefen mehrere Nutzer sogar zu einem Boykott des ESC auf.

Wie immer gibt es Menschen, die mit dem Ergebnis des Wettbewerbs nicht zufrieden sind. Ihr Sieg brachte reichlich Reaktionen in den sozialen Medien hervor, darunter auch antisemitische Kommentare und Boykott-Aufrufe. Wie gehen Sie damit um?

Schon mein ganzes Leben lang muss ich mich mit antisemitischen Kommentaren auseinandersetzen. Wenn man einer Minderheit angehört, egal ob schwarz, jüdisch oder muslimisch, wird man dafür gehasst. Ich wusste, dass das kommen würde, auch wenn es nichts mit Luxemburg zu tun hat. Ich wusste, dass meine jüdische Abstammung und die Tatsache, dass ich halb Israeli bin, für Chaos sorgen würden. Der „Hate“ war hart für mich, aber zu erwarten. Sogar meine Freunde und meine Familie haben mir geraten, ich solle mich schon im Vorfeld darauf einstellen.

Das ist sehr entmutigend!

Es ist traurig, denn ich bin hier, um Musik zu machen und um Menschen zu berühren. Ich habe so viele verschiedene Herkünfte. Ich bin Luxemburgerin und Israelin und Peruanerin. Das bin ich. Ich trage drei Nationalitäten in mir, aber meine Heimat ist Luxemburg. Und auch wenn die Leute das nicht verstehen wollen, können sie nicht leugnen, was ich fühle.

Das sind klare Worte.

Nun, ja. Auf der anderen Seite bin ich auch irgendwie froh, dass ich diesen „Hate“ nicht für meinen Gesang oder mein Aussehen geerntet habe. (lacht) Im Allgemeinen waren die Leute sehr hilfsbereit, und der Hass richtet sich hauptsächlich gegen diesen einen Aspekt, die ich nicht einmal ändern kann. Alles, was ich also tun kann, ist, die Leute, die mich „haten“, zu bemitleiden. Ich bin hier, um Musik zu machen, und wer ein Problem mit mir hat, soll mir nicht folgen und nicht an mich glauben. Aber ich werde weitermachen, „weil ich eine Kämpferin bin“ (Anspielung an Talis Song „Fighter“, Anm. d. Red.).

Eurovision-Agenda

7. Mai 2024: Erstes Halbfinale um 21 Uhr
9. Mai 2024: Zweites Halbfinale um 21 Uhr
11. Mai 2024: Finale um 21 Uhr

Als Nächstes muss Tali sich im ersten Halbfinale gegen 14 weitere Konkurrenten durchsetzen, von denen letztendlich zehn ins Finale einziehen werden. Mit im ersten Halbfinale stehen: Irland, Kroatien, Litauen, Polen, Serbien, die Ukraine, Zypern, Australien, Aserbaidschan, Finnland, Island, Moldau, Portugal und Slowenien.

Würden Sie sich selbst als einen politischen Menschen bezeichnen?

Nein, aber ich brenne für ein paar Themen wie Feminismus, den Kampf gegen Antisemitismus und vor allem für die Umwelt. Wenn es einen Weg gibt, wie ich mit meiner Kunst der Umwelt helfen kann, werde ich das tun.

Wie denken Sie über den Krieg im Gazastreifen? Hat er Auswirkungen auf Ihre Familie?

Ja, natürlich. Wir haben viele Menschen verloren, die wir lieben. Jede einzelne Person, die ich in Israel kenne, hat jemanden verloren, den sie liebt. Wirklich, jeder Einzelne. Für mich ist das also eine sehr persönliche Angelegenheit, weil ich dort Familie habe. Aber ich habe auch einen Studienfreund aus Gaza, dessen Familie dort unter schrecklichen Bedingungen gefangen ist. Es ist also kompliziert. Ich hasse es einfach. Mein Herz schlägt für alle, die Angehörige verlieren. Unabhängig davon, ob man nun von dieser oder jener Seite ist. Es ist mir scheißegal. Wir sollten einfach alle lernen, einander zu lieben. Seid einfach einfühlsam und freundlich, wenn ihr mit jemandem sprecht, auch wenn er aus Israel oder sonst woher kommt. Schließlich will niemand mit seinem zweijährigen Kind in den Keller gehen, weil über seinem Kopf eine Bombe einschlägt. Ich musste das auch tun, viele Male. Ich war im Krieg, wahrscheinlich dreimal. Für mich ist das alles wirklich herzzerreißend. Ich hasse es, darüber zu lesen. Das sind meine Gedanken zu diesem Thema.

Wenn man etwas nicht mit Leidenschaft tut, spüren die Leute das. Und dann ist es die Zeit nicht wert.

Tali Golergant, Luxemburger ESC-Kandidatin

Der Song wird von vielen politisch interpretiert und in den Kontext des Gaza-Konflikts gesetzt. Was macht das mit Ihnen?

Das ist nicht so einfach. Ich habe das Lied bekommen, bevor der Krieg begann. Es ist also unmöglich, dass ich da jemals einen Zusammenhang hätte sehen können. Wie ich bereits vorhin sagte, wollte ich den Song unbedingt haben, als ich ihn zum ersten Mal hörte. Ich dachte sofort, dass dies der Song ist, den ich hoffentlich einmal auf der großen Bühne singen werde. Natürlich klingt der Titel „Fighter“ ziemlich aggressiv. Aber er hat nichts mit der geopolitischen Lage zu tun. Das würde den Song zu etwas Traurigem und Entmutigendem machen. Mein Ziel ist aber, die Menschen zu ermutigen. Es ging immer um meinen inneren Kampf, Schauspielerin und Sängerin in New York zu sein.

Die Organisatoren des ESC behaupten, der Wettbewerb sei unpolitisch. Die Vergangenheit lässt jedoch starke Zweifel an dieser Aussage aufkommen. Inwieweit glauben Sie, dass die politische Situation im Nahen Osten den Wettbewerb für Sie beeinflussen wird?

Ich hoffe, dass die Leute verstehen, dass ich hier bin, um Luxemburg zu vertreten. Das ist mein Ziel. Das ist, was ich in meinem Herzen fühle. Da ich zur Hälfte Israeli bin, könnte ich wieder „Hate“ bekommen. Das habt ihr ja bereits gesehen. Aber ich bin, wer ich bin, es ist Teil meiner Identität. Und ich bin stolz darauf, Luxemburgerin zu sein. Ich bin hier aufgewachsen und weiß, wie man sich zurechtfindet, weil ich so viele Jahre hier gelebt habe. Aber wenn die Leute das nicht verstehen und ich das immer wieder beweisen muss, wird es anstrengend. Wird sich das letztendlich auf mein Ergebnis beim ESC auswirken? Vielleicht. Trotzdem werde ich singen, denn dazu bin ich hier. Ich werde mein Bestes geben.

„Mein Herz schlägt für alle, die Angehörige verlieren. Unabhängig davon, ob man nun von dieser oder jener Seite ist“, lautet Talis Meinung zum Gaza-Krieg
„Mein Herz schlägt für alle, die Angehörige verlieren. Unabhängig davon, ob man nun von dieser oder jener Seite ist“, lautet Talis Meinung zum Gaza-Krieg Foto: Editpress/Julien Garroy