Donnerstag13. November 2025

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SkandalBritische Post und Computergigant Fujitsu verantwortlich für Hunderte von Fehlurteilen

Skandal / Britische Post und Computergigant Fujitsu verantwortlich für Hunderte von Fehlurteilen
Der Sitz des japanischen Software-Giganten Fujitsu in Bracknell im Westen Londons Foto: Adrian Dennis/AFP

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Die britische Regierung hat am Mittwoch ein Eilgesetz zur umfassenden „Entlastung“ unschuldig verurteilter Postbediensteter angekündigt. Premier Rishi Sunak nannte im Unterhaus den sogenannten Horizon-Skandal einen Justizirrtum, „einen der schlimmsten unserer Geschichte“. Fragen und Antworten zu einem Fall, der seit der Ausstrahlung einer TV-Miniserie zum Thema die britische Politik und Gesellschaft in Atem hält.

Was steckt hinter dem Skandal? Das neue Computersystem Horizon des japanischen Software-Giganten Fujitsu. Im vergangenen Jahrhundert von der Tory-Regierung unter John Major bestellt und unter Labour-Premier Tony Blair angenommen, sollte es die Abrechnung von Zehntausenden von teils winzigen Postfilialen mit der Zentrale automatisieren. Schon bald traten Mängel auf; diese wurden von Fujitsu und der halbstaatlichen Firma Post Office Counters (POC) jenen Tausenden von Vertragsangestellten (subpostmasters and -mistresses) zur Last gelegt, die in eigener Verantwortung die Postämter im ganzen Land betreuen. Besonders auf dem Land genießen sie eine Vertrauensstellung, weil viele Rentner und Sozialhilfeempfänger für ihre wöchentlichen Zahlungen auf POC angewiesen bleiben.

Tausende unbescholtener Postamtsleiter gerieten durch Fehlleistungen des Computersystems in den falschen Verdacht, das POC und damit die Steuerzahler zu bestehlen. Mehr als 900 Menschen, darunter Schwangere und Alte, wurden als Bilanzfälscher und Betrüger verurteilt und teilweise monatelang ins Gefängnis gesteckt, gestützt auf falsche Aussagen der Horizon-Experten. Viele trieb der Konflikt mit ihrem Arbeitgeber in den finanziellen und emotionalen Ruin, vier Menschen begingen Selbstmord.

Inzwischen hat zwar der High Court in einem Musterverfahren den Horizon-Geschädigten recht gegeben und 93 Verurteilungen aufgehoben. Im Rahmen eines Vergleichs verpflichtete sich POC zu Schadensersatzzahlungen. Doch Hunderte Unschuldiger warten noch immer auf ihre justizielle und finanzielle Wiedergutmachung, ihre Wartezeit wird auf bis zu 15 Jahre geschätzt.

Warum wurde die Justiz zum Handlanger eines Privatunternehmens? Erstens ist die Kostenlast in einem Zivilprozess so hoch, dass viele unbescholtene Postbedienstete den Gang vor Gericht scheuten und die vermeintlichen Fehlbeträge aus eigener Kasse beglichen. Wer standhaft blieb, wurde von POC vor den High Court gezerrt.

Mit Privatisierungen zu weit gegangen

Groteskerweise schaffte, zweitens, die damalige konservativ-liberale Koalitionsregierung bei der vollständigen Privatisierung ein jahrhundertealtes Privileg des ehrwürdigen Post Office nicht ab. So kann das Privatunternehmen bis heute Engländer und Waliser auch strafrechtlich verfolgen. Dies müsse sich nun dringend ändern, findet Labour-Oppositionsführer Keir Starmer, der einst selbst Chef der Staatsanwaltschaft war.

Der walisische Titelheld des TV-Dramas „Mr Bates vs the Post Office“, der heute 68-Jährige Alan Bates, kam vergleichsweise glimpflich davon: Er verweigerte die Unterschrift unter falsche Horizon-Abrechnungen, verlor deshalb seine Postfiliale in Llandudno und seine Ersparnisse, konnte aber nicht strafrechtlich verfolgt werden.

Warum schlägt der Fall jetzt so hohe Wellen? Entscheidend dürfte gewesen sein, dass bei den Briten zu Recht das Gefühl umgeht, sie seien mit der Privatisierung einst in öffentlicher Hand befindlicher Unternehmen zu weit gegangen: Hochverschuldete private Wasserwerke leiten millionenfach Abwasser in die Flüsse und ins Meer, private Stromanbieter verfolgen rücksichtslos die Ärmsten der Armen, private Eisenbahnen streichen kurzerhand Züge, weil angemessen ausgebildetes und bezahltes Personal fehlt.

Gleichzeitig haben die Konservativen seit 2010 die öffentliche Infrastruktur am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Zu den Problemen der Aufarbeitung gehört deshalb auch, dass der Justiz dringend nötige Kapazitäten fehlen. Deshalb geht die bürokratisch notwendige Aufarbeitung von Fehlurteilen, also deren gerichtliche Annullierung, ebenso schleppend voran wie die Auszahlung der eigentlich zugesagten Entschädigungsgelder.

Strafverfolgung der Firmenmanager

Was beinhaltet der Regierungsplan? Premier Sunak ließ die Details im Unterhaus offen. Denkbar wäre die gesetzliche Annullierung sämtlicher POC-Verfahren ohne Betrachtung der individuellen Umstände. Das verursacht manchen Juristen ebenso Magenbeschwerden wie dem Tory-Lord James Arbuthnot, der als Unterhausabgeordneter die Aufklärung des Skandals vorantrieb. Die Aufhebung von Urteilen der unabhängigen Justiz durch die Legislative, sagt Arbuthnot, „würden wir anderswo scharf kritisieren“. In der Diskussion ist auch eine Begnadigung en masse. Offen bleibt dabei, ob damit das Vorstrafenregister der Betroffenen automatisch gelöscht würde.

Was fordern die Betroffenen und die Opposition? Rasche Wiedergutmachung und Strafverfolgung der verantwortlichen Firmenmanager und IT-Spezialisten. Tatsächlich ermittelt Scotland Yard nicht nur gegen zwei Fujitsu-Ingenieure, sondern erwägt auch ein Betrugsverfahren gegen die Firma Post Office Counters (POC). Die langjährige POC-Chefin Paula Vennells gab am Dienstag unter dem Druck der Öffentlichkeit einen 2019 verliehenen Orden zurück. Nun richtet sich der Fokus auf die Bonuszahlungen in Millionenhöhe, die während ihrer Amtszeit fällig wurden.

Im Unterhaus forderte der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses ein Moratorium von Regierungsaufträgen an Fujitsu. „Versagen sollte nicht weiter belohnt werden“, glaubt der Labour-Abgeordnete Liam Byrne. Seitdem der High Court 2019 die Fehlerhaftigkeit von Horizon feststellte, hat Fujitsu nach Recherchen der Financial Times Regierungsaufträge im Umfang von umgerechnet 5,7 Milliarden Euro erhalten.