LuxemburgBessere Arbeitsbedingungen für 200.000 Beschäftigte: Die unterschätzte Macht der Kollektivverträge

Luxemburg / Bessere Arbeitsbedingungen für 200.000 Beschäftigte: Die unterschätzte Macht der Kollektivverträge
Kollektivverträge spielen für den einzelnen Arbeitnehmer eine wichtige Rolle bei den Arbeitsbedingungen. Wie „gut“ die einzelnen Kollektivverträge sind, ist jeweils eine Frage der Kräfteverhältnisse. Archivbild: Editpress/Alain Rischard

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Kollektivverträge spielen hierzulande eine wesentliche Rolle bei Gehalt, Urlaubstagen und Arbeitszeit. Mehr als 200.000 Beschäftige haben dank ihnen Arbeitsbedingungen, die besser sind als die vom Luxemburger Gesetz vorgesehenen Mindestkriterien. 

„Das Arbeitsrecht in Luxemburg ist deutlich weniger stark, als wir allgemein annehmen“, so Jean-Luc De Matteis, Zentralsekretär bei der Gewerkschaft OGBL, im Gespräch mit dem Tageblatt. „Alles andere ist der Kollektivvertrag“, so der Gewerkschafter. Was beispielsweise die Höhe der Gehälter angeht, so sieht das Gesetz nur den Mindestlohn (oder den qualifizierten Mindestlohn) vor. Auch Urlaubsgeld ist nicht gesetzlich vorgeschrieben. Ein 13. Monatsgehalt oder eine Jahresendprämie auch nicht. Ein Recht auf ein Sabbatjahr („Congé sans solde“) besteht, laut Gesetz, ebenfalls nicht. Gehaltserhöhungen für Alter oder Betriebszugehörigkeit sind ebenfalls keine gesetzliche Pflicht. Pro Jahr stehen dem Arbeitnehmer gerade mal 26 Urlaubstage zu.

Dass es in vielen Betrieben höhere Gehälter für lange Ausbildungen, automatische Gehaltserhöhungen oder mehr Urlaubstage gibt, ist Kollektivverträgen (auch Tarifverträgen genannt) zu verdanken. Dabei handelt es sich um Abkommen, die zwischen Arbeitnehmergewerkschaften und einem oder mehreren Arbeitgebern ausgehandelt werden. In diesen Abkommen werden Arbeitsorganisation und Arbeitszeit geregelt, Lohntabellen und berufliche Laufbahnen werden festgelegt, Prämien und Arbeitszeitregelungen definiert, Möglichkeiten zur Weiterbildung erläutert und Regeln gegen Mobbing festgelegt.

Eigentlich sei in einem Kollektivvertrag alles möglich, was die Fantasie erlaubt, dem die Vertragspartner zustimmen und was nicht ungesetzlich ist, so Jean-Luc De Matteis. Die Regeln dürfen zudem für die Arbeitnehmer nie schlechter ausfallen als das, was im Gesetz steht. Einen Vorzeige-Kollektivvertrag gebe es jedoch nicht. Jeder Kollektivvertrag sei anders und nicht mit dem nächsten vergleichbar. „Der beste Kollektivvertrag ist, wenn Betrieb und Mitarbeiter damit zufrieden sind, wenn eine gerechte Umverteilung des Erwirtschafteten erreicht wird.“

Eine gerechte Verteilung des Erwirtschafteten

Nach luxemburgischem Recht gibt es zwei Arten von Tarifverträgen. Erstens: „Normale Kollektivverträge“, wo der Arbeitgeber (Unternehmen; Organisation) mit einer Gewerkschaft verhandelt hat, und ein Abkommen erzielt wurde. Zweitens: Tarifverträge für spezifische Berufsgruppen, die von repräsentativen Gewerkschaften mit der betreffenden Arbeitgeber-Vereinigung ausgehandelt wurden und die für einen ganzen Sektor bindend sind. Beispiele von sektoriellen Kollektivverträgen sind das Bauwesen, der Finanzsektor, das Reinigungswesen und die Druckereien. Die Allgemeinverbindlichkeit ist eine Absicherung gegen Sozialdumping, erläutert De Matteis. Auch Unternehmen, die neu in den Sektor hinzukommen, müssen sich an die Regeln halten. Im Gegensatz zur ersten Art der Kollektivverträge ist die Liste (und der Inhalt) der zweiten Art über die Webseite der zuständigen Behörde (ITM) einsehbar

Die ausgehandelten Bedingungen kommen jeweils allen Mitarbeitern (ausgenommen sind Führungskräfte) des betreffenden Betriebs oder der betreffenden Berufsbranche zugute. Es spielt keine Rolle, ob sie Mitglied einer Gewerkschaft sind oder nicht.

Dennoch fallen hierzulande nur um die 55 Prozent der Arbeitnehmer unter die Reglungen von Kollektivverträgen. Etwa die gleiche Quote als in Deutschland, wie Zahlen der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) zeigen. Das ist zwar deutlich mehr als in der Türkei (7 Prozent), den USA (11,6 Prozent) oder in Großbritannien (31,2). Aber deutlich weniger als in Belgien (96 Prozent), den Niederlanden (77,6 Prozent) oder Dänemark (82 Prozent).

Nur 55 Prozent der Arbeitnehmer haben einen Kollektivvertrag

Zum Pech für die Allgemeinheit der Angestellten ist das Gewicht der Kollektivverträge zudem am Schrumpfen. In allen Ländern der OECD ist die Quote der tarifvertraglich gebundenen Beschäftigten von 38,1 im Jahr 1998 auf 32,4 im Jahr 2017 gefallen. Auch das Großherzogtum hat sich dem Trend nicht entziehen können. „Während das System der Arbeitsbeziehungen in Luxemburg im Vergleich zur Situation in anderen europäischen Ländern noch relativ robust ist, sind dennoch Elemente der Erosion spürbar“, schreiben Forscher des „Luxembourg Institute of Socio-Economic Research“ (Liser) in einer der seltenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema: „Luxemburg: ein Beispiel für erodierende Stabilität“. 

Obwohl die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den letzten 20 Jahren hierzulande gewachsen ist, ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten auch hierzulande rückläufig, so die Feststellung der Liser-Forscher. Waren 1998 noch 43,2 Prozent aller Beschäftigten Mitglieder einer Arbeitnehmervertretung, so waren es 2018 nur noch 31,8 Prozent, zeigen Zahlen der OECD.

„Die Gewerkschaften konnten mit dem schnellen Anstieg der Gesamtbeschäftigung nicht Schritt halten, der durch das starke Wachstum der luxemburgischen Wirtschaft verursacht wurde“, schreiben die Autoren des Berichts. In einer Reihe von Sektoren (öffentlicher Sektor, verarbeitende Industrie) sind die Gewerkschaften immer noch gut etabliert. Aber in anderen Bereichen ist die Präsenz der Gewerkschaften und folglich auch die Abdeckung durch Tarifverhandlungen schwach (Handel, Gastronomie und Hotels, Unternehmensdienstleistungen).

Diese ungleichmäßige Gewerkschaftspräsenz auf Unternehmensebene wie auch die Tatsache, dass immer mehr Arbeitnehmervertreter in Unternehmen unabhängige Kandidaten und keine Gewerkschaftsmitglieder sind (wobei laut Gesetz nur Gewerkschaften Kollektivverträge aushandeln dürfen), „kann der Abschluss neuer Tarifverträge für die Gewerkschaften eine Herausforderung darstellen“, schlussfolgern die Autoren in der Veröffentlichung. Parallel dazu sehen die Autoren die Gefahr, dass bestehende Tarifverträge allmählich an Substanz verlieren könnten und immer weniger Vorteile für die Arbeitnehmer enthalten. Seit der Krise von 2008 habe das Land nämlich beispielsweise eine Reihe von Vereinbarungen erlebt, die darauf abzielen, Lohnzurückhaltung gegen Arbeitsplatzsicherheit einzutauschen.

Von dieser Entwicklung ist Jean-Luc De Matteis nicht erfreut. Er kämpft für Kollektivverträge. „Der Kollektivvertrag ist das beste Mittel für eine gerechte Lohnpolitik“, erklärt er. Zudem ist der Kollektivvertrag „flexibel und kann immer an den Betrieb und seine Lage angepasst werden“.

Entweder man verdient den Mindestlohn. Oder es gibt einen Kollektivvertrag. Da gibt es in Luxemburg nur zwei Möglichkeiten.

Jean-Luc De Matteis, Zentralsekretär beim OGBL

Wer gute Mitarbeiter halten will, muss ihnen auch Perspektiven bieten, so der Gewerkschafter weiter. Von mehr Zufriedenheit und mehr Motivation bei der Arbeit habe nicht nur der Mitarbeiter etwas. Das „Mehr an Transparenz“ verhindere zudem, dass Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden. Man brauche sich nicht mehr zu fragen: „Verdient mein Kollege mehr als ich?“ Das ist im Kollektivvertrag geregelt.

Kollektivverträge durch ein Gesetz zu ersetzen, sei derweil keine gute Alternative, so De Matteis. „In Betrieben muss mehr möglich sein, für beispielsweise alle zehn Jahre Betriebszugehörigkeit einen Tag Urlaub zusätzlich auszuhandeln – national ist das schwierig.“ Immerhin gebe es Sektoren mit überdurchschnittlich hohen Gewinnmargen, sagt er. „Wer auf das Gesetz wartet, kommt nicht voran.“

Gesetzliche Nachbesserungen gewünscht

Jean-Luc De Matteis
Jean-Luc De Matteis Archivbild: Editpress/Alain Rischard

Insgesamt würde sich der Gewerkschafter dennoch eine Kollektivvertrag-freundlichere Gesetzgebung wünschen. Das bestehende Gesetz sei sehr oberflächlich. Es sehe nur vor, wer verhandeln darf und wie verhandelt wird. „Wir wollen Nachbesserungen“, fordert er. Aktuell ist, was die Verhandlung von Tarifverträgen in Unternehmen betrifft, nur die Teilnahme am Verhandlungsprozess gesetzlich vorgeschrieben. Die Erzielung einer Einigung jedoch nicht. „Das Verhandeln eines Kollektivvertrags sollte Pflicht sein“, würde De Matteis sich wünschen. Eine andere Idee wäre, in staatlichen Ausschreibungen das Kriterium einbauen, dass ein Betrieb, der sich bewirbt, einen Kollektivvertrag haben muss. Auch müsste es einfacher „möglich sein, einen Sektor zum Verhandeln zu zwingen“.

Schlussendlich sei das Ergebnis jedoch immer eine „Frage der Kräfteverhältnisse“, unterstreicht er. „Es gibt keine Vorschriften. Wenn der Firmenchef nichts geben will – dann gibt er nichts. Daher ist das Streikrecht so wichtig“, so der Gewerkschafter. „Und die Kräfteverhältnisse. Es ist wichtig, dass die Leute bereit sind zu kämpfen. Ohne Mitarbeiter ist ein Betrieb nichts wert.“ Und es mache einen Unterschied, ob 3 Prozent des Personals oder 80 Prozent bereit sind, die Arbeit niederzulegen. In diesem Zusammenhang bedauert er auch das „überaus schwerfällige“ Luxemburger Streikrecht.

Noch erwähnt werden muss, dass jeder Kollektivvertrag ein Ablaufdatum hat. Die minimale Laufzeit beträgt sechs Monate, die maximale Laufzeit drei Jahre. Wird das Abkommen dann nicht erneuert, sondern gekündigt, dauert es zwölf Monate und jeder neue Mitarbeiter kann zum Mindestlohn eingestellt werden. Den anderen können dann, mittels eines „Changement substantiel des conditions de travail“, einfach alle „Acquis“ weggenommen werden. Wer das nicht will, verliert seinen Job. „Das Gesetz hilft nicht“, so Jean-Luc De Matteis. „Helfen kann wiederum nur das Kräfteverhältnis.“