Im Herzen der Gewalt
Die Idee für „Robe of Gems“, ein Film, dessen poetischer Titel Bilder von äußerster Gewalt verbirgt, kam der mexikanisch-bolivianischen Regisseurin Natalia López Gallardo, als sie Interviews mit Müttern führte, deren Kinder entführt worden sind – in Mexiko gelten zurzeit etwa 90.000 Menschen als verschollen. Im Zentrum dieser Geschichte der Gewalt stehen aber nicht (nur) die Missetäter – eine Bande von Dealern, Kleinkriminellen, korrupten Bullen und Vergewaltigern rund um eine Taxigesellschaft, deren Fahrer wohl hauptsächlich Leichen und Koks herumkutschieren –, sondern vor allem die (weiblichen) Opfer dieser Gewaltspirale.
Beginnen tut der Film mit Isabel (Nailea Norvind), die sich von ihrem Mann scheiden lässt und mit ihren beiden Kindern Vale und Benjamin in die alte Familienfinka zieht. Dass die Gegend dort fest in der Hand des Drogenkartells ist, will sie auf eigene Faust herausfinden – und hört folglich nicht auf die ehemalige Hausangestellte Maria (Antonia Olivares), deren Schwester verschollen ist und die Isabel vor den Kartells warnt. Dies tut sie nicht ohne Grund: Um über die Runden zu kommen, arbeitet sie selbst für eine Bande von Kidnappern, zu denen auch der Sohn der Polizistin Roberta (Aida Roa) gehört. Je mehr dieser naive Teenie, der sich einen Ruf als Influencer machen will, in die Welt des Verbrechens eintaucht, desto vehementer wird sich Roberta gegen die Korruption innerhalb der Polizei auflehnen – mit verheerenden Folgen.
Wie in Roberto Bolaños „2666“ gehören Frauenmorde in der Welt von „Robe of Gems“ fast schon zum Alltag – zu Beginn des Films durchforsten Isabel, Maria und die Kinder in einer Nacht-ohne-Nebel-Aktion ein Gestrüpp auf der Suche nach Marias Schwester, wenig später filmt López Gallardo eine komplett überlaufene Anlaufstelle für vermisste Verwandte.
Filme und Serien über südamerikanische Drogenkartelle gibt es wie Sand am Meer, Natalia López Gallardos Regiedebüt sticht jedoch doppelt aus der Menge hervor – einerseits, weil sie den Klischees gewalttätiger Männer drei zwar starke, jedoch angesichts des systemischen Gewaltstrudels machtlose Frauen entgegenstellt und so mit den Stereotypen des südamerikanischen Drogenkartellfilms bricht – denn selbst, wenn diese kriminellen Figuren in solchen Filmen negativ dargestellt werden, stehen sie immer noch im Mittelpunkt und haben meist mehr Konsistenz als die passiven Frauenfiguren –, andererseits aber auch, weil die Kameraführung und die Erzählstruktur hier, ein bisschen wie bei Iñárritu, ordentlich auf den Kopf gestellt werden. So versteht man nicht immer auf Anhieb, wie das Geschilderte sich in die Handlung eingliedert: Die Gewalt wird zum destrukturierenden Gestus.
Die Kamera begleitet dabei weniger das Geschehene, als dass sie es ästhetisch kommentiert – während eines Gesprächs im gutbürgerlichen Daheim von Isabels Mutter, werden ausschließlich die Essensreste auf den Tellern und die manikürten Hände der Mutter gefilmt, gegen Ende des Films wird Isabel, die trotz allem, was sie durchlebt hat, mehr oder weniger wacker dasteht, mitsamt der Umgebung nur noch trüb dargestellt, als wolle sie sich selbst und die blutdurchsickerte Umgebung ausblenden.
Die Kamera verbleibt oft woanders, ganz so, als wolle, ja als könne sie diese teils wirklich verstörenden Bilder nicht zeigen oder als wolle sie versuchen, in einem kleinen Detail oder einer Kameraeinstellung die Redundanz der Gewalt zu transzendieren, sie quasi per Metonymie, als pars pro toto festzuhalten: Mehr als die Gewalt selbst filmt López Gallardo die Unmöglichkeit, reale Gewalt in einer Fiktion zu filmen und erinnert somit entfernt an das Theaterwerk einer Sarah Kane.
Wer „Robe of Gems“ jedoch vorwerfen möchte, die Regisseurin würde den Blick abwenden, hat nicht verstanden, dass diese unterschwellige Form der Gewaltdarstellung umso stärker ist, weil der Zuschauer weiterhin hört, was er nicht sehen kann. Um dies zu verdeutlichen, endet der Film mit einer Szene, in denen die Form – ein quälend langsamer Ralentando – und das Gefilmte – ein Mann geht in Flammen auf und verbrennt bei lebendigem Leib vor passiven Zuschauern – ganz furchtbar harmonieren und in einer Sequenz den gesamten Film verdichten. (Jeff Schinker)
„Robe of Gems“, von Natalia López Gallardo, Offizieller Wettbewerb, 3,5/5
Starke Frauenfreundschaft trotz Ménage-à-trois

„Why is it, that guilt always follows women?“ Diese Frage stellt Nana (Happy Salma) ihrer neu gewonnen Freundin Ino (Laura Basuki) spätabends bei einer Zigarette. Ino, die auch die Geliebte von Nanas Ehemann Mr. Darga (Arswendy Bening Swara) ist, antwortet nichts darauf, aber das muss sie auch nicht. Das Leben der Frauen – wir befinden uns in den 1960er Jahren auf der indonesischen Insel Java – wird von Männern dominiert. Letzteren ist die politische Sphäre vorbehalten, sie sind die Familienoberhäupter, die von ihren Ehefrauen umsorgt werden, den Haushalt als Wirtschaftseinheit leiten und am Tisch sagen dürfen, wann die anderen Familienmitglieder endlich ihr Besteck ins Essen versenken können.
Diese Ungleichheit zu sehen, ist bedrückend, doch erzählt der Film „Nana“ (englischer Titel: „Before, Now and Then“) der 35-jährigen Regisseurin Kamila Andini keine Geschichte, in der die männlichen Unterdrücker und die weiblichen Unterdrückten in sauber getrennte Lager unterteilt werden, verbunden nur durch eine unilateral ausgeübte Gewalt. Im Gegenteil: In einem geruhsamen Tempo und mit einem erstaunlichen Auge für Details zeigt Andini, wie sich die Membran aus Normen und Sitten einer Staubschicht gleich über das Leben der Figuren legt und alle Bereiche ihrer Existenz durchdringt, sie aber auch offen und porös ist, sodass auch Begegnungen auf Augenhöhe stattfinden und unverhofft Freundschaften erblühen können – gerade dort, wo sie am unwahrscheinlichsten erscheinen.
Mr. Darga ist kein herrischer Patriarch, der über den Kopf seiner Frau hinweg alles bestimmt und ihrem Leid gegenüber gleichgültig ist, er möchte – und das belegt auch das Ende des Films –, dass seine Frau glücklich ist. Er nimmt Verantwortung dafür, dass er Nana mit seinem Verhalten (will heißen: mit seinen Seitensprüngen) Schmerz zugefügt hat und gibt ihr in einem Gespräch den moralischen Freipass dafür, mit einem anderen Mann einen Neuanfang zu wagen, sollte sie das wollen.
Nana, ihrerseits, ist weder völlig schicksalsergeben-unterwürfig noch reagiert sie mit Hass und Verachtung auf ihre Nebenbuhlerin, die plötzlich auf der Bildfläche erscheint. Trotz ihrem Widerwillen behandelt sie die Rivalin mit Höflichkeit und Respekt. Sie lässt die junge und überraschend sympathische Metzgerin, die sich als Frau ein unabhängiges Leben wünscht, Kontakt zu ihrer jungen Tochter haben und gemeinsam mit der Familie speisen. Zwischen Ehefrau und Geliebter entwickelt sich dann bald ein authentisches, vertrauensvolles Verhältnis, in dem beide eine Zuflucht finden.
Der Verdienst des Films ist es, dass durch die Charaktertiefe der Figuren das Liebesdreieck als eine ebenso komplexe wie problematische, weil auf Geschlechterungleichheit beruhende Konstellation dargestellt wird. Erzählt wird schließlich auch die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die schon vor ihrer Ehe mit Mr. Darga viel Leid erfahren hat. Leider ist „Nana“ etwas langatmig geraten und wirkt teils redundant, weil sich viele Einstellungen ähneln. Davon abgesehen ist der Film ästhetisch sehr ansprechend und macht Lust, die indonesische Kultur besser kennenzulernen. (Christine Lauer)
„Nana“ von Kamila Andini, Offizieller Wettbewerb, Bewertung: 3/5
Diese Nummer rettet Leben

Für ungewollt Schwangere ist die Telefonnummer auf den Flyern, die an öffentlichen Orten in Chicago aushängen, oft die letzte Rettung. Die Betroffenen sollen, wie dort steht, „Jane“ anrufen – wobei es die Jane gar nicht gibt, oder besser gesagt: Es gibt ganz viele von ihnen. Denn die „Janes“ sind die mutigen Frauen, die eine Untergrund-Organisation für Schwangerschaftsabbrüche leiten. Dabei riskieren sie Kopf und Kragen, schließlich sind Abtreibungen in den 60ern, in denen die Geschichte von „Call Jane“ spielt, per Gesetz verboten. Sollte eine Frau beim Eingriff sterben, droht den Aktivistinnen zudem eine Mordanklage.
Die „Janes“, die es wirklich gab, lernt man aber erst später im Film kennen. Zunächst fokussiert sich die Story auf die schwangere Hausfrau Joy (Elizabeth Banks), die sich mit ihrer pubertierenden Tochter Charlotte (Grace Edwards) und ihrem Ehemann Will (Chris Messina), der als Anwalt arbeitet, auf den Familienzuwachs freut. Dann aber kommt die verheerende Nachricht: Durch ein gesundheitliches Problem stehen Joys Chancen, Schwangerschaft und Geburt zu überleben, bei 50 Prozent. Eine Abtreibung wird ihr jedoch von der – rein männlichen – Krankenhausleitung verwehrt. Dank dem Einsatz der „Janes“ kann Joy doch ihre Schwangerschaft beenden. Kurz darauf wird sie von Virginia (Sigourney Weaver), die die Organisation ins Leben gerufen hat, selbst um einen Gefallen gebeten – und so fängt Joy an, Gefallen an der Mission von „Call Jane“ zu finden. Es dauert nicht lange, bis sie Mitglied der revolutionären Gruppe wird. Die Blondine mit dem Hair Flip steht nun vor allerlei Schwierigkeiten, da sie zur Geheimhaltung verpflichtet ist und daher ihr Engagement vor ihrer Familie verbergen muss.
„Call Jane“ behandelt ein herzzerreißendes Thema auf sensible Weise, ist aber zugleich auch ein beschwingter Film mit vielen witzigen Momenten und auflockernden Szenen. Durch die vielen unverblümten, mit Spötteleien gespickten Dialoge zwischen den Frauen, die sich rückhaltlos für ihre verzweifelten Geschlechtsgenossinnen einsetzen, erscheinen ihre Freundschaftsbande glaubhaft und die Protagonistinnen nahbar. Nervenaufreibend sind dann vor allem die Abtreibungsszenen – auch wenn dem Publikum der Anblick allzu krasser Bilder, wie sie zum Beispiel in Audrey Diwans „L’événement“ gezeigt werden, erspart bleiben.
„Call Jane“ ist somit weniger ein Abtreibungsdrama als eine unterhaltsame feministische Befreiungsgeschichte, bei der das hollywoodgemäße Happy End nicht fehlen darf. Eben das kann man dem Film anlasten: Neben dem etwas zu glanzvollen Finale hätte der Plot auch verschiedene Nebenschauplätze gar nicht gebraucht. Der familiäre Konflikt, den Joy auszutragen hat, wirkt in seiner Aufbereitung wenig originell – genauso wie z.B. die noch schnell reingebastelte Knutsch-Szene zwischen Will und der Nachbarin Lana (Kate Mara). Die Handlung ein wenig abzuspecken und sich auf ihre wirklich gehaltvollen Aspekte zu konzentrieren, hätte Phyllis Nagys Werk gut getan. Dennoch sei dieser Film jedem empfohlen, der sich für Themen wie Abtreibung und die Frauenbewegung interessiert (oder seinen Begleiter bzw. seine Begleiterin an diese Sujets heranführen möchte) und gleichzeitig Lust auf ein wenig Zerstreuung hat. (Christine Lauer)
„Call Jane“ von Phyllis Nagy, Offizieller Wettbewerb, Bewertung: 4/5
Rurale Utopie

Passieren tut hier eigentlich fast nichts: Ein Mann, Bruder Vier, auch Ma (Wu Renlin) genannt, ist ledig, weswegen er eine Art Schande für die Familie darstellt, die in einer ersten Szene über ihn redet, als wäre er gar nicht da. Worüber sie so abfällig plaudern? Dass Bruder Vier mit Guiying (Hai Qing), die von ihrer Familie so regelmäßig zusammengeprügelt wurde, dass sie keine Kontrolle über ihre Blase hat, endlich eine Ehefrau gefunden hat. Kinder bekommen kann sie aufgrund ihrer fragilen Verfassung keine – weshalb sich, so die Familie, niemand anders als möglicher Ehemann angeboten hat als eben ihr Loserbruder.
Auf dem Hochzeitsfoto wenden sich die beiden voneinander ab: Das Porträt sieht aus, als hätte man willkürlich ausgesuchte fremde Menschen nebeneinander abgelichtet. Langsam kommt sich das Ehepaar jedoch näher, anfangs, weil es eine Zweckgemeinschaft im Überleben in der Armut bildet – Guiyung und Ma überleben in abgewrackten Schuppen auf dem Land, die sie regelmäßig verlassen müssen, weil die Regierung mit dem Ziel, das rurale China zu modernisieren und zu ästhetisieren, eine lächerliche Summe für das Abreißen der Baracken anbietet – später jedoch, weil sie einander schätzen und, ja, lieben lernen.
Die beiden Figuren stehen am Rande der Gesellschaft: Ma wird nur gebraucht, weil er als einziger im Dorf dem reichen, aber kranken Landbesitzer, von dem das gesamte Dorf wirtschaftlich anhängig ist, Blut spenden kann. Regelmäßig wird er zudem von den Brüdern heimgesucht, die ihm ihre Lebensvision und eine Wohnung in der Stadt aufdrängen möchten. Ma und Guiyung verfolgen jedoch ihre Utopie eines einfachen, armen, aber autarken Lebens – eine Utopie, die streckenweise an „Minari“ erinnert. Während Guiyung eine Hühnerzucht beginnt und den Küken einen perforierten Pappkarton, der mehr Lampion als Kiste ist, bastelt, setzt sich Ma in den Kopf, ein eigenes Haus zu errichten.
Im Gegensatz zu dem esoterischen Einerlei von Terrence Malicks kontemplativem Spätwerk, werden diese einfachen Bilder in eine schnörkellose Liebesgeschichte eingebettet. Auch wenn diese visuelle Ode an das ländliche Leben die Armut etwas zu sehr in einer Postkartenästhetik transzendiert, so ist Li Ruijuns „Return to Dust“ dennoch ein berührender Film, der in einer Zeit der totalen Beschleunigung und der digitalen Dystopie eine mögliche Alternative zeichnet, ohne dabei in die verklärte Verherrlichung einer ruralen Welt, die auf der Kippe steht, zu verfallen. (Jeff Schinker)
„Yin Ru Chen Yan“ von Li Ruijun, Offizieller Wetttbewerb, 3,5/5
De Maart
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