Montag29. Dezember 2025

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ÖsterreichAustro-Ampel mit hohem Konfliktpotenzial in Herkulesaufgabe gestartet

Österreich / Austro-Ampel mit hohem Konfliktpotenzial in Herkulesaufgabe gestartet
Der neue österreichische Bundeskanzler Christian Stocker (l.), der Vize-Kanzler Andreas Babler und die neue Außenministerin Beate Meinl-Reisinger während der Vereidigungszeremonie in der Wiener Hofburg Foto: Roland Schlager/APA/AFP

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Nach der längsten Regierungsbildung der Zweiten Republik steht Österreichs erste Dreier-Koalition vor einer der globalen Zeitenwende entsprechenden Herkulesaufgabe. Dazu kommen interne Konfliktpotenziale, die das Experiment von ÖVP, SPÖ und NEOS zur Zeitbombe machen.

Wenigstens gibt es jetzt eine Regierung und die Rechtspopulisten bleiben auf der Oppositionsbank – so der allgemeine Tenor der Kommentatoren. Mehr als fünf Monate – so lange wie noch nie in der Zweiten Republik – hat es gedauert, bis Bundespräsident Alexander van der Bellen am Montag in der Hofburg den neuen Bundeskanzler angelobte, mit dem vor zwei Monaten niemand gerechnet hatte.

Christian Stocker war nach dem Scheitern des ersten Anlaufs zur türkis-rot-pinken Austro-Ampel im legeren Pullover zur ÖVP-Vorstandssitzung gekommen, weil er nach dem Rücktritt von Parteichef und Bundeskanzler Karl Nehammer fix damit gerechnet hatte, als ÖVP-Generalsekretär ebenfalls den Hut nehmen zu müssen. Es kam anders: Mangels Gedränge um die Nehammer-Nachfolge wurde Stocker neuer Parteichef, der gleich mit einem Wortbruch zu starten hatte. Die ÖVP nahm entgegen ihrem heiligen Wahlversprechen Verhandlungen mit Herbert Kickls FPÖ auf, das noch dazu in der Position des Juniorpartners. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß und trieb die ÖVP zurück zum Start. Im zweiten Anlauf kam die Dreier-Koalition doch zustande – und Stocker völlig ungeplant ins Kanzleramt.

Kaum Schonzeit

Spätestens am Donnerstag beim Debüt am EU-Gipfel wird der 64-Jährige mittendrin in den Wirren einer Zeitenwende unmittelbar spüren, dass diese Koalition keine gemächliche Einarbeitungsphase haben wird. Wenn es so etwas wie eine Schonzeit gibt, dann nur, weil großen Teilen der Republik noch der vom Trump-Klon Kickl ausgelöste Schock in den Gliedern sitzt und die Erleichterung über die Verhinderung der rechtspopulistischen Machtergreifung nachwirkt.

Ob die plötzliche Kompromissfähigkeit der vor Kurzem noch unversöhnlichen Streithanseln nur Folge einer Schockstarre ist oder doch einem nachhaltigen Sieg der Vernunft entspringt, wird sich bald herausstellen. Denn Österreichs Multikrise macht keine Pause, sondern verschärft sich mit jedem Tag der Untätigkeit. Die Problemliste ist erdrückend: Im dritten Rezessionsjahr erinnert eine Pleitewelle das Land an die Dringlichkeit jahrzehntelang aufgeschobener Strukturreformen. Fatal ist die enge Bindung an die von der Lokomotive zur Konjunkturbremse gewordenen Deutschen, die ebenfalls lieber im Reformschlafwagen unterwegs sind.

Hoffen auf Merz

Wien äugt schon erwartungsvoll nach Berlin, hoffend, dass es Friedrich Merz vielleicht schon richten wird. Doch die Anpassung eines von der Migration völlig überforderten Bildungssystems mit Schulklassen, in denen die meisten Kinder nicht mehr Deutsch sprechen, müssen die Österreicher schon selbst auf die Reihe kriegen. Ebenso den Umbau des an einem föderalistischen Kompetenzwirrwarr krankenden Gesundheitssystems, in dem Profilierungsinteressen von Länderfürsten mehr zählen als das Patientenschicksal. Das demografisch in die Bredouille geratene Pensionssystem braucht mehr als die homöopathische Reformdosis, auf die sich die neue Koalition einigen konnte. Reformen kosten zudem oft in der Umbauphase Geld, das ein Staat nicht hat, der in den vergangenen Krisenjahren das Volk mit dem Füllhorn ruhigzustellen versucht hat. Der Vorrat an pekuniären Tranquilizern ist aufgebraucht, die Staatskasse leer, der Schuldenberg riesig. Und die geopolitische Lage lässt auch keinen Platz für das Prinzip Hoffnung, auf das gerade die „Insel der Seligen“ so gern vertraut.

Klassenkampf

Bis 2028 muss Österreich 24 Milliarden Euro einsparen, um wieder unter die Maastricht-Grenze von drei Prozent des BIP zu kommen. Ob der an staatliche Wohltaten gewohnte Bürger Verständnis für nichts mehr zu verteilen habende Politiker aufbringt, darf bezweifelt werden. Statt kollektiver Einsicht in die Notwendigkeit schmerzhafter Sanierungsmaßnahmen droht auch dieser Koalition ein Clash der Partikularinteressen. Je magerer die Zeiten, desto größer die Solidarität, das mag in den wirklich mageren Nachkriegsjahren noch gegolten haben, heute hat individuelle Bedürfnisbefriedigung Vorrang.

Diese gesellschaftliche Zeitbombe ist in dieser Koalition abgebildet: Hier der konservative Kanzler Stocker aus der niederösterreichischen Provinz, der es als Kleinstadt-Anwalt zu bürgerlichem Wohlstand gebracht hat, dort der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Vizekanzler Andreas Babler, ein Bildungsabbrecher, der sich in der SPÖ mit klassenkämpferischer Attitüde ganz nach oben geboxt, aber damit sogar manche Genossen verschreckt hat. Hier der neue ÖVP-Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer, ein ehrgeiziger Parteisoldat, der zuletzt als Generalsekretär der Wirtschaftskammer Unternehmerinteressen vertrat, dort der tiefrote Finanzminister Markus Marterbauer mit Sympathie für Bablers „Stamokap“-Fraktion. „Stamokap“ steht für Staatsmonopolkapitalismus und eine extrem linke Strömung der Sozialistischen Jugend.

Zwischen den Fronten

Zwischen diesen Polen finden sich die liberalen Neos der neuen Außenministerin Beate Meinl-Reisinger, die in jungen Jahren Referentin des ÖVP-Europaparlamentarieres Othmar Karas war, ehe sie den christdemokratischen Modergeruch nicht mehr ertrug und mit dem ebenfalls einst für die ÖVP werkenden Matthias Strolz eine eigene Partei gründete. Sie repräsentiert ein junges Österreich, das die Ärmel aufkrempeln will, um das Land umzukrempeln. Die Kleinpartei steht dabei den wert- wie strukturkonservativen Kräften der alten großen Koalition gegenüber, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. In der ÖVP hoffen manche weiter auf das Comeback von Sebastian Kurz, Stocker jedenfalls ist kein Mann der Zukunft. Die SPÖ wiederum leistete sich während der Regierungsbildung einen offenen Machtkampf zwischen ultralinken Bableristen und Pragmatikern.

Wie lange das gutgehen kann? Schon nach der Wiener Landtagswahl Ende April, bei der die FPÖ ihren Höhenflug fortsetzen dürfte, könnten der „Ampel“ Zentrifugalkräfte zusetzen. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Nur diesem nicht.