Dienstag23. Dezember 2025

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Von der Sowjetunion nach Luxemburg verschlepptAustellung „Ost“ in Düdelingen macht übersehene Opfer des Nationalsozialismus sichtbar

Von der Sowjetunion nach Luxemburg verschleppt / Austellung „Ost“ in Düdelingen macht übersehene Opfer des Nationalsozialismus sichtbar
Verschwundene Spuren: Zwischen 1942 und 1944 wurden zahlreiche Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Russland und Weißrussland nach Luxemburg verschleppt Foto: Editpress/Julien Garroy

Bislang wurde dem Schicksal der während des Zweiten Weltkriegs aus der Sowjetunion nach Luxemburg zwangsdeportierten Menschen nur wenig Beachtung geschenkt. Das „Centre de documentation sur les migrations humaines“ (CDMH) in Düdelingen, wichtiger Erinnerungsort für die Migrationsbewegungen in Luxemburg, widmet diesen übersehenen Opfern des Nationalsozialismus eine bewegende Ausstellung und macht sie sicht- und hörbar.

Eine große Tafel konfrontiert die Besucher:innen beim Betreten der Ausstellung „OST – Les traces disparues des travailleuses et travailleurs forcés d’Ukraine, de Russie et Biélorussie au Luxembourg (1942-1944)“ unmittelbar mit ihrem zentralen Sujet: Menschen, Gesichter von meist jungen Menschen. Es sind Fotos in Ausweisgröße, aufgenommen bei der amtlichen Erfassung der während des Zweiten Weltkriegs nach Luxemburg aus der Sowjetunion Verschleppten. Bei ihrer Ankunft erhielten sie eine Nummer und Kleidung mit einem Aufnäher mit der Aufschrift „OST“. Offiziell wurden sie nun „Ostarbeiter“ genannt, in Abgrenzung zu anderen zwangsdeportierten Gruppen.

Tragische Schicksale

Diese Porträts konnten nach langen und aufwändigen Recherchen in verschiedenen Archiven zusammengetragen werden. Einzelne sind in Vergrößerung zu sehen, zum Beispiel ein elfjähriger Junge namens Sorin. Sein trauriger, fast leerer Blick fragt: Was habe ich getan? Warum bin ich an diesem Ort und werde fotografiert? Dabei bedeutet Sorin, vermutlich rumänischen Ursprungs, sinngemäß „der Sonnige“ und wird oft mit Wärme, Licht und Lebensfreude assoziiert.

Infos

Die Ausstellung läuft noch bis zum 22. Februar und ist von Donnerstag bis Sonntag von 15 bis 18 Uhr geöffnet. Ein Begleitheft ist in Französisch und Englisch kostenlos erhältlich.

Einzelne ehemalige Zwangsarbeiter:innen berichten in Video- und Audiointerviews über ihren persönlichen Lebensweg und die durchlittenen Erfahrungen. Bronislava Astrowko erzählt im Jahr 2006: „Meine Mutter klammerte sich an den Wagen und schrie laut: ‚Wohin bringt ihr sie? Sie ist doch noch klein. Wohin?‘, bis ihr jemand, ein Deutscher oder einer der örtlichen Polizisten, mit dem Stiefel gegen die Hand trat. Sie fiel zu Boden – das war’s.“

Mit 13 Jahren wird Bronislava Astrowko zusammen mit weiteren, oft jugendlichen Bewohner:innen eines Dorfes in der Sowjetrepublik Belarus im Mai 1943 verschleppt und nach Differdingen gebracht, wo sie für Hadir („Hauts-fourneaux et aciéries de Differdange, St-Ingbert, Rumelange“) hart arbeiten muss. Deutsche Truppen waren seit Mitte 1941 bis weit ins Landesinnere der Sowjetrepubliken eingedrungen und hatten Millionen sowjetischer Soldaten und Zivilist:innen ermordet oder gefangen genommen. Ganze Dorfbevölkerungen wurden bei den systematischen Mordaktionen in Gebäuden zusammengetrieben und diese dann mitsamt den eingesperrten Menschen verbrannt. Als Bronislava Astrowko 1945 nach vielen Zwischenstationen in verschiedenen Lagern aus Luxemburg zurückkehrt, gibt es ihr Dorf nicht mehr, Familie und Verwandte sind tot. Ihr Leben lang kämpft sie mit Zurückweisung und sozialer Ausgrenzung. Der Aufenthalt im deutschen Machtbereich genügte, um den ehemaligen „Ostarbeitern“ Verrat, Kollaboration mit dem Feind oder Spionage vorzuwerfen.

Spurensuche in Luxemburg

Die Ausstellung basiert auf dem vom Staatsministerium Luxemburg geförderten dreijährigen Forschungsprojekt „Zwang“ am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C²DH) der Universität Luxemburg unter der Leitung der Slawistin und Autorin Inna Ganschow. Im November wurde ihr Werk „Keiner weinte, es gab keine Tränen mehr“ mit dem „Lëtzebuerger Buchpräis“ 2025 in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet (Tageblatt 14.11.25). Wie das Buch fokussiert auch die unter ihrer Mitwirkung konzipierte Ausstellung die unbekannten Schicksale der über 4.000 „Ostarbeiter“ im Kontext der historischen Ereignisse.

Zahlreiche Fotos und Dokumente beleuchten die politischen und lokalen Gegebenheiten im Süden Luxemburgs zur Zeit der NS-Besatzung
Zahlreiche Fotos und Dokumente beleuchten die politischen und lokalen Gegebenheiten im Süden Luxemburgs zur Zeit der NS-Besatzung Foto: Editpress/Julien Garroy

Die reichhaltige Sammlung an Fotos und Dokumenten aus kommunalen und staatlichen Archiven, privaten Leihgaben, Zeitzeugenberichten, Zeitungsartikeln, Propagandamaterial und Erklärtafeln beleuchtet die politischen und lokalen Gegebenheiten im Süden Luxemburgs. Eine großformatige Reproduktion einer Stadtansicht von 1942 zeigt das besetzte Zentrum von Düdelingen mit der St.-Martin-Pfarrkirche während einer NS-Massenkundgebung, die Gebäude beflaggt mit Hakenkreuzfahnen. Im Rahmen der großen Streikbewegung im Sommer waren auch das Düdelinger Stahlwerk und verschiedene Minen teilweise bestreikt worden. Die Besatzungsmacht reagierte brutal auf den Widerstand: mit Todesurteilen, Deportationen in Konzentrationslager, Zwangsarbeit in Deutschland. Mit der Mobilmachung im Herbst wurden junge luxemburgische Männer für den Reichsarbeitsdienst oder die deutsche Wehrmacht zwangsrekrutiert, auch an die Ostfront. Schlagartig fehlten Tausende Arbeitskräfte, vor allem in der Stahlindustrie. Denn die Luxemburger Hütten, allen voran Arbed und Hadir, mussten unter deutscher Kontrolle in die Rüstungsproduktion einsteigen. „Nachschub“ an Arbeitskräften kam mit den aus den besetzten Gebieten Osteuropas verschleppten Menschen. Für sie wurden von Stacheldraht eingezäunte Barackenlager errichtet, deren Standorte und die Zahl der dort Untergebrachten eine Grafik in der Ausstellung verdeutlicht. Auch Fotos der Lager sind Teil der Dokumentation.

Grau(sam)er Alltag

Das Überwachungssystem war auf maximale Ausbeutung der Arbeitskraft angelegt. Zu Propagandazwecken von professionellen Fotografen hergestellte Bilder zeigen demgegenüber zufrieden aussehende, bisweilen sogar fröhlich lächelnde Menschen bei der Arbeit oder in einem sauberen und gut gepflegten Lager. Diesen Scheinwirklichkeiten und Fälschungen werden heimlich aufgenommene Fotos gegenübergestellt: überfüllte, dreckige, feuchte Baracken, verseucht von Wanzen und Läusen. Erdrückende Schwerstarbeit an sechseinhalb Tagen in der Woche, jeweils zwölf bis 14 Stunden lang. In Gießereien und an Hochöfen, in Zementwerken und Eisenerzgruben oder in landwirtschaftlichen Betrieben.

Ein Artikel im Tageblatt vom Oktober 1944 – kurz nach der Befreiung des luxemburgischen Südens einschließlich Düdelingen durch amerikanische Truppen – berichtet von einem Stück, das ehemalige Gefangene verfasst haben. Es thematisiert ihren tatsächlichen, elenden Zustand sowie die menschenverachtende Behandlung, Gewalt und Misshandlungen durch SA-Männer und Lagerpolizei. Sogar die Hilfsbereitschaft und Unterstützung durch luxemburgische Arbeiter wurden nicht geduldet, sondern gewaltsam verhindert.

Die trotzdem von Teilen der luxemburgischen Bevölkerung praktizierte menschliche Solidarität ist ebenfalls in der Ausstellung dokumentiert. Sie ist repräsentiert in Ego-Dokumenten, in Briefen oder Notizen in einem Gebetbuch, in persönlichen Geschenken, etwa an die Familie eines Arztes aus Esch/Alzette, der für seine Hilfe orthodoxe Bronzeikonen geschenkt bekam. Bewundern kann man auch ein paar schlichte Spielzeuge aus Holz und Metall, bemalt mit Erdfarben, aus Dankbarkeit für die heimliche Unterstützung mit Lebensmitteln oder Kleidung im Lager angefertigt.

Nach dem Krieg entzogen sich in Einzelfällen ehemalige „Ostarbeiter“ der Repatriierung und bauten sich ein neues Leben in Luxemburg auf. Davon zeugt zum Abschluss der Ausstellung die „Familienwand“. Dieser Bereich ist nun hell ausgeleuchtet: eine gelungene Dramaturgie, die im Halbdunkel – menschliches Leid reflektierend – begonnen hatte und mit der Hoffnung auf Versöhnung und Erinnerung die Gedenkstele von Anton Stepine präsentiert. Sie wird im Mai 2026 am historischen Standort des ehemaligen Lagers Rellent in Düdelingen installiert.