Montag22. Dezember 2025

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LiteraturAuf Kollisionskurs: Christoph Heins „Das Narrenschiff“ erzählt vom Innenleben der DDR-Elite

Literatur / Auf Kollisionskurs: Christoph Heins „Das Narrenschiff“ erzählt vom Innenleben der DDR-Elite
Bruderkuss zum 40-jährigen Staatsjubiläum der DDR: Michail Gorbatschow (l.) und Erich Honecker Foto: Wolfgang Kumm/dpa

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Christoph Hein erzählt in „Das Narrenschiff“ die Geschichte der DDR aus der Perspektive der sozialistischen Nomenklatura, die den Untergang kommen sieht. Ein erhellender Roman, der Geschichte nicht wertet, sondern sie in den Gedanken und Gesprächen seiner Protagonisten vorstellt.

Es ist jetzt bald 35 Jahre her, dass sich am 3. Oktober 1990 die beiden deutschen Staaten zur großen Bundesrepublik vereinigten. Der Optionen gab es damals zwei: Ein Beitritt der sich im desolaten Zustand befindlichen DDR nach Artikel 23 des westdeutschen Grundgesetzes oder die Aufhebung eben dieses Grundgesetzes nach Artikel 146, um beiden beitretenden Familienmitgliedern die Chance zu geben, sich eine gemeinsame und ausgewogene Verfassung zu geben. Wie die Geschichte zeigte, neigte der große Bruder aus Bonn am Rhein dazu, die kleine Schwester aus Ost-Berlin zum Beitritt zu bewegen. Das Wort „Anschluss“ vermied man seinerzeit, weil es seit Österreich 1938 schlecht beleumundet war.

Doch konnte dieses aus zwei so unterschiedlichen Republiken zusammengesetzte Deutschland nun als ein Land betrachtet werden? Daran ergeben sich auch dreieinhalb Jahrzehnte danach erhebliche Zweifel. Noch immer spricht man von den „neuen Bundesländern“, wenn man die im Osten der Republik meint, und von den „Ossis“, spricht man über deren Menschen.

Grund genug, einen Blick auf dieses Konstrukt zu werfen, das vierzig Jahre unter dem Namen „Deutsche Demokratische Republik“ firmierte. Christoph Hein ist nicht nur einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, er ist vor allem auch ein profunder Kenner, Miterlebender und Miterleidender des ostdeutschen Lebens und der Gesellschaft. Sein aktueller Roman „Das Narrenschiff“ ist ein Resümee der DDR-Geschichte. Hein widmet sich darin nicht zum ersten Mal dem Leben in der kleinen Republik zwischen Ostsee und dem Thüringer Wald, hier aber schreibt er zum ersten Mal aus der Sicht der Oberschicht, der sozialistischen Nomenklatura. Über Spitzenkader, die mit den Truppen der Roten Armee im Mai 1945 aus dem sowjetischen Exil nach Deutschland zurückkehrten, um nach zwölfjähriger faschistischer Diktatur einen neuen Staat aufzubauen. So wie der Kommunist Karsten Emser oder der ehemalige Wehrmachtsfeldwebel Johannes Goretzka, der sich in der Antifa-Schulung der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zum sozialistischen Weg bekehren ließ. Dabei ist auch Benaja Kuckuck, Germanist und Anglist von internationalem Ruf, der exzellente Shakespeare-Kenner, der als deutscher Jude vor den Nazis nach England emigrierte, sich dort unter dem Eindruck des faschistischen Putsches in Spanien der kommunistischen Idee anschloss.

Vierzig Jahre Geschichte

Christoph Hein verwebt die Schicksale dieser Personen – die allesamt Biografien real Existierender widerspiegeln – mit historischen Figuren wie Walter Ulbricht, Anton Ackermann, Wilhelm Pieck oder Erich Honecker. Wer, wie der Autor dieser Zeilen, Jahrzehnte in Ostberlin gelebt hat, war dem einen oder anderen der Protagonisten im Leben begegnet, denn wie schrieb Hein: „Die ostdeutsche Republik war klein und überschaubar, irgendwann lief hier jeder jedem über den Weg, zumal, wenn man gleiche oder ähnliche Interessen hatte.“ Da waren die Mitschüler, die Tochter des Politbüromitglieds Hermann Axen oder die des Spionage-Generals Markus Wolf (der bei Hein als Fuchs auftritt), da war der Fernsehkollege Karl-Eduard von Schnitzler nur eine Bürotür weiter, da waren…

Miterlebender und Miterleidender des ostdeutschen Lebens: Christoph Hein
Miterlebender und Miterleidender des ostdeutschen Lebens: Christoph Hein Foto: Heike Steinweg

Da waren die Hoffnungen, die ein Hermann Kant schon in der „Aula“ beschrieben hatte: Die eigenen Eltern hatten als Arbeiter die Chance zu studieren, ihre Generation wollte ein anderes, gerechteres Deutschland aufbauen. Doch da waren auch die Illusionen, ob das denn überhaupt ginge, ein Deutschland nach dem Vorbild der stalinistischen Sowjetunion.

Hein führt durch mehr als vierzig Jahre Geschichte, vom Umbruch 1945 über den Beginn des Kalten Krieges, der auch in der Gründung beider deutscher Republiken seinen Ausdruck fand. Der Roman lässt uns den 17. Juni 1953 erleben, wie die Niederschlagung der ungarischen Rebellion 1956 oder die des Prager Frühlings im sonnigen August 1968. Aus dem inneren Kreis zeigt uns der Autor den von Moskau gebilligten (gewollten?) Sturz Ulbrichts und den Machtantritt Honeckers.

Die historischen Fakten sind in gängigen Enzyklopädien nachlesbar. Doch der Roman führt uns in das Innenleben der an führender Position Gestaltenden. Begleitet die Hoffnungen des emigrierten Kommunisten Emser, der als Wirtschaftsprofessor und Mitglied des mächtigen Zentralkomitees den Aufstieg und schließlich Niedergang der kleinen Republik begleitet. Den Weg des Hütteningenieurs Goretzka, der als Konvertit den kommunistischen Ideen ebenso fanatisch anhängt wie einst der Naziideologie und machtverliebt den Posten eines Ministers anstrebt. In die Zweifel des Intellektuellen Benaja Kuckuck, der, anstatt eine hervorragende Professur zu bekleiden, als ehemaliger Westemigrant auf ein kulturelles Abstellgleis geschoben wird. Involviert in die Reise sind auch Freunde, Verwandte, Kinder, die in den vierzig Jahren der Existenz des kleinen Staates versuchen, ihren Platz an Bord zu finden.

Alle drei Protagonisten sehen die unvermeidliche Kollision des Narrenschiffs kommen, seinen Untergang erleben sie nicht mehr. Hein gibt im Roman keine Wertung der Geschichte ab, er stellt sie vor in den Gedanken und Gesprächen seiner Protagonisten. Diesen zu folgen, könnte das Bild der kleinen Republik erhellen – bis zu dem Zeitpunkt, als die Passagiere des Narrenschiffs das sinkende Boot verlassen und feststellen, dass hinter dem Zaun eine noch größere Welt existiert. Die jedoch nicht nur größer, sondern auch mit vielen Unwägbarkeiten ausgerüstet ist. Die Passagiere des Dampfers DDR, die erst skandieren „Wir sind das Volk!“, um dann umzustimmen in: „Kommt die D-Mark, bleiben wir! Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“

Das Schiff lief auf Grund, wie 45 Jahre zuvor bereits schon einmal. Doch eine neue Gründergeneration, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, konnte es in Ostdeutschland nicht geben: Alle führenden Positionen wurden nach der Vereinigung schnell von Westdeutschen besetzt. Was blieb, ist vielfach der Frust, dass mit der D-Mark und der Freiheit auch die Freiheit der Arbeitslosigkeit kam. Das Schiff wurde geplündert (Treuhand) und die Fahrgäste rieben sich die Augen. Hein setzt an dieser Stelle einen Punkt. Das Thema ist für ihn abgeschlossen, längst schreibt er an einem neuen Roman, in dem die östliche Republik nicht mehr vorkommt. Die Geschichte zu lesen, kann uns Lesern vielleicht aber begreiflich machen, warum der heutige Osten so ist, wie er ist.

Info

Christoph Hein. Das Narrenschiff. Roman, Suhrkamp 2025. 751 Seiten. ISBN 978-3-518-43226-6. 28,00 Euro