In Buenos Aires schneit es. Die ganze Stadt ist mit Schnee bedeckt. Wer mit den weißen Flocken in Berührung kommt, stirbt umgehend. Immer wieder kommt es zu Stromausfällen – bis alles lahm liegt. In Vicente López, einem Vorort im Norden der Millionenmetropole, sitzt Juan Salvo mit Freunden beim „Truco“, einem in Argentinien weit verbreiteten Kartenspiel, während Außerirdische Buenos Aires bereits erobert haben. Die Stadt ist voller Leichen. Juan Salvo und seine Mitstreiter kämpfen sich mit ihren selbst gebastelten Schutzmasken durch eine postapokalyptische Stadtlandschaft. Hinter dem tödlichen Schneefall steckt eine außerirdische Armee.
Die Graphic Novel wurde erstmals 1957 veröffentlicht. Regisseur Bruno Stagnaro hatte bereits viele Jahre lang versucht, sie als Serie umzusetzen. Die Covid-19-Pandemie verzögerte die Produktion noch mehr. Schließlich dauerten die Dreharbeiten von Mai bis Dezember 2023 in der argentinischen Hauptstadt. Die erste Staffel aus sechs Episoden hatte am 30. April Premiere.
Der wahre Held ist der Held in der Gemeinschaft, niemals der Einzelheld
Schon der Titel ist bedeutungsschwanger: „El Eternauta“ ist ein Kunstwort aus dem Spanischen und heißt so viel wie „Reisender der Ewigkeit“. So wie Juan Salvo sich als „ewigen Reisenden“ bezeichnet. In Argentinien wurde die Geschichte während der Militärdiktatur 1976 bis 1983 zu einem Symbol für den kollektiven Widerstand. „Der wahre Held ist der Held in der Gemeinschaft, niemals der Einzelheld“, schrieb Oesterheld. Es handelt sich also nicht um einen Einzelkämpfer, sondern um eine Gruppe von gewöhnlichen Menschen der Gesellschaft. Was dieser Gruppe widerfährt, kann als Allegorie auf den Militärputsch von 1976 und auf das Leiden unter der Diktatur gedeutet werden. Ihre Strategie, um zu überleben, ist die Solidarität. „El Eternauta“ steht für jeden, der Widerstand leistet gegen Unterdrückung. Angetrieben werden diese Widerstandskämpfer durch die Hoffnung.
Das Schicksal der Familie Oesterheld
Die von dem Journalisten und Szenaristen Oesterheld sowie dem Zeichner Solano López verfasste Graphic Novel erschien zuerst als Fortsetzungsgeschichte in dem BD-Magazin „Hora Cero“. Sie beginnt auf der Metaebene: Ein Comicautor, als Oesterheld selbst zu erkennen, erhält Besuch von Juan Salvo, der aus dem Nichts auftaucht, dem Autor gegenübersitzt und von seinen Erlebnissen berichtet. Die Geschichte, die er erzählt, ist eine Science-Fiction-Geschichte, allerdings nicht im Sinne von Jules Verne den späteren technischen Fortschritt vorwegnehmend, sondern eine negative, die politische und gesellschaftliche Entwicklung voraussagend.

Konkret antizipiert diese Dystopie ein Trauma, das Argentinien bis heute zu bewältigen hat: die durch den Staat ausgeübte Gewalt der 1970er Jahre, der schließlich auch Oesterheld selbst und seine vier Töchter Estela, Diana, Beatriz und Marina zum Opfer fielen. Die Oesterhelds zählen zu den vielen „Desaparecidos“, den Verschwundenen der argentinischen Militärdiktatur, die von Schergen des Regimes entführt, gefoltert und ermordet wurden. Der Autor, der gegen das Regime in den Untergrund gegangen war, wurde somit zum Protagonisten seiner eigenen Geschichte. „El Eternauta“ kommt daher eine prophetische Kraft zu. Vor dem Hintergrund des Schicksals von Oesterheld und seiner Familie ist dies umso beklemmender. Denn es geht um den Kampf eines Familienvaters gegen einen die gesamte Gesellschaft durchdringenden Gegner. Juan Salvo verliert seine Familie und macht sich auf die Suche nach ihr. Für ihn beginnt damit eine Odyssee durch Raum und Zeit.
Ein Mann im improvisierten Schutzanzug und mit Taucherbrille, der ein Gewehr geschultert trägt – in Buenos Aires begegnet man diesem Motiv unter anderem als Graffiti-Motiv an Hauswänden und U-Bahnstationen. Einige dieser Stencils trugen später das Gesicht des 2010 verstorbenen linksperonistischen Präsidenten Néstor Kirchner, der sich die juristische Aufarbeitung der Verbrechen während der Militärdiktatur auf die Fahnen geschrieben hatte. Kirchner und seine Frau Cristina Fernández de Kirchner instrumentalisierten die Graphic Novel politisch, unter anderem auf Wahlplakaten. Sie haben das Schicksal des linken Peronisten Oesterheld für sich vereinnahmt. Aus „Eternauta“ wurde „Néstornauta“.
Ein Plädoyer für Solidarität
Die Ängste, Sorgen und Hoffnungen der Akteure der TV-Serie und der Graphic Novel sind leicht nachvollziehbar angesichts der ihnen feindlich gesinnten Übermacht. Hinzu kommt, dass Juan Salvo kein Superman ist, sondern eher ein Zweifler und gebrochener Held, der vor allem im gemeinsamen Kampf mit seinen Freunden stark ist. Der Comic kann in diesem Sinne als ein Plädoyer für Solidarität und Menschlichkeit gelten – und als ein Symbol für den Widerstand gegen die Diktatur.
Viele Argentinier können sich mit Juan Salvo identifizieren. So wie er seine Familie sucht, wissen noch heute viele nicht, was aus ihren Angehörigen geworden ist. Als Oesterheld und kurz darauf seine vier Töchter „verschwanden“, zwei vermutlich schwanger, und ermordet wurden, begab sich die hinterbliebene Witwe und Mutter Elsa Sánchez auf die Suche nach den Verschwundenen. Sie schloss sich den „Madres de Plaza de Mayo“ und danach den „Abuelas de Plaza de Mayo“ an, den Müttern und Großmütter der Plaza de Mayo, die ab 1977 für ihre verschwundenen Angehörigen gegen das Regime protestierten.
Bruno Stagnaro hat die Geschichte des „Eternauta“ in die Gegenwart verlegt. Passenderweise spielt Ricardo Darín die Hauptperson Juan Salvo. Es ist eine Paraderolle. Nun trägt der „Reisende der Ewigkeit“, neben „Mafalda“, die aus der Feder des Zeichners Quino stammt, die wohl berühmteste argentinische Comicfigur, das Gesicht des größten argentinischen Filmstars der Gegenwart. Der „Eternauta“ lebt weiter im Netflix-Zeitalter und wird wohl auch dieses überleben. Die Serie bietet eine gut sechs Stunden spannende Unterhaltung, ein Science Fiction mit Monsterkäfern und Endzeitstimmung zwischen „Invasion of the Body Snatchers“ (1956 und 1978 von Don Siegel respektive Philip Kaufman) und „The Last of Us“ – und sie lädt nicht zur Beschäftigung mit der Geschichte Argentiniens ein, sondern ist ein Plädoyer für Solidarität.
Héctor Germán Oesterheld, Francisco Solana López: El Eternauta. Deutsche Version im Avant Verlag. Berlin 2016. 392 Seiten. Ca. 40 Euro.


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