Andrii ist 27, hat sein kleines Unternehmen im Online-Marketing, eine Frau, einen Hund, ist stolzer Ukrainer und liebt Kiew, sein Zuhause. Nun sitzt er auf der Terrasse eines der Cafés auf der Place de Paris in Luxemburg-Stadt. Völlig erschöpft. Und redet zwei Stunden ohne Punkt und Komma. Andrii hat die wildesten und dramatischsten Wochen seines Lebens hinter sich. Die Militärpolizei seines Landes wollte ihn an die Front zwingen – und auf einmal verstand Andrii die Welt nicht mehr. Trotzdem sagt er, und das liegt ihm am Herzen: „Ich gebe der Ukraine keine Schuld und möchte nicht, dass die Leute denken, ich würde mein Land hassen.“
Wegen seiner Sehschwäche hatte die Armee ihn für wehrunfähig erklärt. Was also ging vor in dieser verhängnisvollen Nacht in Lwiw, im Westen des Landes? Andrii war an jenem Augustabend auf einem Konzert der luxemburgischen Neofolk-Band Rome, mit deren Musikern er befreundet ist. Nach der Show gingen sie zum Hotel der Band und saßen dort noch ein bisschen zusammen. 30 Minuten vor der Ausgangssperre ging Andrii, wie er erzählt, zu seiner Wohnung. Unterwegs hielt ein Minibus neben ihm, uniformierte Männer stiegen aus. Es war klar, die Militärpolizisten des „Territorial Center for Recruitment and Social Support“ hatten Andrii im Visier – und zwangen ihn mitzufahren. Warum halfen ihm weder die herbeigerufenen Polizisten noch die Ambulanzfahrer? Es sind Fragen, auf die Andrii keine Antwort hat. Alles, was feststeht, ist, dass diese Nacht sein Leben auf den Kopf gestellt hat.
Das Ziel heißt Sicherheit
Jemand wie Andrii, der als Unternehmer Leute beschäftigt und der ukrainischen Armee mit Spenden half, der an Charity-Sporttagen der Asow-Brigade teilnahm und in den zerstörten Butscha und Irpin mit anderen Freiwilligen den Schutt beiseite räumte, sollte eigentlich von einer Mobilisierung befreit sein. Noch dazu seine Wehrunfähigkeit. Andrii hatte seine Dokumente dabei. Die Uniformierten interessierten sich nicht dafür. In dem Moment begann die wochenlange Odyssee, die ihn nun nach Luxemburg geführt hat, auf der Durchreise, sein Ziel ist ein anderes europäisches Land. Ein Land, wo er sich sicher fühlen kann.
Ich gebe der Ukraine keine Schuld und möchte nicht, dass die Leute denken, ich würde mein Land hassen
Die Ukraine steht unter stetigem Druck, genug Material und Rekruten an die Front zu schaffen. Der Abnutzungskrieg, den Moskau Kiew aufzwingt, verlangt einen Dauernachschub an Soldaten. Der Kampf an der Front fordert viele Tote. Zudem sind die Soldaten irgendwann so erschöpft, dass sie, falls möglich, ausgetauscht werden müssen. Doch dazu kommt es meistens nicht. Es gibt kaum Rotation, eine Demobilisierung auch nicht. Wie auch? Ohne Soldaten sind die Stellungen im Osten des Landes nicht zu halten. Doch die russische Invasion begann vor mehr als zweieinhalb Jahren. Es melden sich, wie in jedem Krieg, der so lange dauert, kaum mehr Freiwillige. Seit der fehlgeschlagenen ukrainischen Gegenoffensive im Sommer vergangenen Jahres wird der Weg an die Front immer mehr als Einbahnstraße wahrgenommen, bei der die einzige Möglichkeit, den Dienst zu beenden, darin besteht, zu sterben oder verstümmelt heimzukehren. An der existenziellen Gefahr, in der sich die Ukraine befindet, ändert das nichts.

Dass sie den Krieg nicht verlieren dürfen, wenn es ihr Land fortan geben soll, wissen die Menschen in der Ukraine. Andrii sieht das nicht anders. Er versteht, dass Soldaten gebraucht werden. Doch er findet, eine wenigstens halbwegs funktionierende Wirtschaft werde ebenso gebraucht. Dort sah und sieht er sich am hilfreichsten im Freiheitskampf seines Landes. Sein Unternehmen für Online-Marketing will er nun von Europa aus führen. Auch, damit er weiter an die ukrainische Armee spenden könne, wie er sagt.
Andrii versteht – und hadert
Andrii versteht die Realitäten seines Landes. Die Eltern und Großeltern seiner Frau leben in der von Russland besetzten Oblast Saporischschja. Oder besser gesagt: Sie überleben dort, so gut es geht, auch diese Region ist Kriegsgebiet. Er hat die Gräuel der Schlachten gesehen. Was er nicht versteht, ist, wie ihm geschah und warum er jetzt auf der Flucht sein muss. Teile des Staates, an den er auch weiterhin glaubt, wollten ihn mit gefälschten Papieren zum Soldaten machen. Andrii zeigt die abfotografierten Dokumente und medizinischen Analysen, die ihm, der ohne Brille quasi nichts mehr sieht, eine perfekte Sicht attestieren, auf seinem Handy. „Ein Wahnsinn, diese Lügen“, sagt er und schüttelt den Kopf. Diener dieses Staates, seine eigenen Mitbürger und Mitstreiter, haben ihn bedroht, gedemütigt und geschlagen. Gegen jegliches Recht wollten sie mit ihm und anderen die Schützengräben füllen und ihn in den fast sicheren Tod schicken.
Für mich war es keine Option, ein solcher ‚Jemand‘ zu sein, der kaum eine Chance hat, diesen Krieg zu überleben
Vom Minibus in Lwiw ging es Anfang August erst für einige Tage in ein Rekrutierungszentrum am Rand der Stadt. Eigentlich war es ein altes Hotel, das nicht mehr in Betrieb war. „Du bist dort allein, sie brechen das Gesetz und zwingen dich in Gefangenschaft, du verlierst die Hoffnung und alles, woran du vorher geglaubt hast“, sagt Andrii, „das war das Schlimmste, was mir passiert ist, dort ist meine ganze Welt zusammengebrochen“.
Also schmiedete Andrii Fluchtpläne. Seine von ihm alarmierte Frau war sofort aus 500 Kilometern Entfernung angereist und fotografierte die Gebäude von außen ab. Er schaute Videos auf YouTube und fragte ChatGPT, wie man Leintücher verknotet, um sich aus dem dritten Stock abzuseilen. Doch dann verließ ihn der Mut. Oder er kam zur Vernunft. Andrii findet, dass es eine Mischung aus beidem war, die ihn dazu brachte, seine Fluchtgedanken erst einmal ruhen zu lassen. Zudem hatte ihn die Hoffnung nicht verlassen, dass alles nur ein großes Missverständnis war, das sich bald aufklären würde, und er wieder ein freier Mann wäre. Wie ein böser Traum, der auch wieder enden muss. „Ich hielt mich an die Anweisungen, das schien mir in der Situation der sicherste Weg“, sagt Andrii.
Doch es kam anders. Nach drei oder vier Tagen wurde Andrii zusammen mit ein paar weiteren Männern aus ihrer Unterkunft am Stadtrand von Lwiw in eine Militärkaserne unweit der belarussischen Grenze gefahren. Hier sollten sie mit vielen anderen im ganzen Land aufgegriffenen Männern einen Crashkurs erhalten, in vier Wochen fit für die Front werden.
Ab jetzt war Andrii ein Soldat. Widerwillig, aber machtlos, ohne Möglichkeit, sich zu wehren und wieder rechtschaffener Zivilist zu werden. „Niemand dort hat sich dafür interessiert, dass meine Dokumente gefälscht sind, niemand hat sich dafür interessiert, was ich kann und was nicht“, sagt Andrii: „Alle dort waren vor kurzem mobilisiert worden. Sie brauchen dauernd neue Leute. Warum sie das tun? Weil an der Front im Osten die Hölle ist, sie brauchen dort nur jemanden, der ein Gewehr halten kann.“ Für Andrii war jetzt klar, dass er etwas unternehmen musste. Einer der Offiziere habe ihnen gesagt, dass die Armee in einer perfekten Welt nur die Jungen, Gesunden und Motivierten aufnehmen würde, aber die Welt sei nun mal alles andere als perfekt – „kommt also damit klar.“ Andrii wusste, dass er weglaufen musste, einmal an der Front angekommen, hätte es kein Zurück mehr gegeben. Seine IT-Fähigkeiten hatte Andrii der Armee angeboten, sagt er, doch sie wollten ihn als Infanterist im Schützengraben sehen: „Für mich war es keine Option, ein solcher ‚Jemand‘ zu sein, der kaum eine Chance hat, diesen Krieg zu überleben, während ich anders nützlicher sein kann für mein Land.“

Das Einzige, was blieb, war die Flucht. Aus dem Land hinaus, ins Illegale hinein. In der Ukraine gilt er, der sein Land liebt und sich durchaus als Patriot sieht, jetzt als fahnenflüchtig. Andrii nutzte einen Freigang, um sich abzusetzen. Er bezahlte Männer dafür, ihn möglichst nahe an die rumänische Grenze zu bringen. Die letzten Meter musste er dann allein laufen. Als Schlepper würde er diese Menschen nicht bezeichnen. Andrii beschreibt sie als Männer, die einem gegen Geld helfen. Und je mehr man zahlt, desto sicherer ist die Route. Wer anders als Andrii kaum Geld hat, dem bleibt nur die Flucht in der großen Gruppe. Die Gefahr, dabei erwischt zu werden, ist ungleich größer.
Schwierige Entscheidungen
Immer wieder veröffentlichen die ukrainischen Mobilisierungsbeamten im Internet Fotos ihrer Fahndungserfolge. Die Bilder zeigen Gruppen von 20, 30 völlig verzweifelt dreinschauenden jungen Männern, flankiert von bewaffneten Uniformierten mit Gesichtsmasken. Die Botschaft ist klar: Flucht lohnt sich nicht und ist etwas für Feiglinge. Doch die Fotos stehen auch für eine verzweifelte Politik. Eine Politik, die der ukrainischen Führung vom russischen Aggressor aufgezwungen wurde – soll die Ukraine weiter existieren, müssen Menschen für den Kriegsdienst rekrutiert werden. Wie viele Männer, die eigentlich für die ukrainische Armee kämpfen könnten, sich außer Landes flüchten, ist nicht genau gewusst. Doch in der Ukraine gilt die Faustregel, dass das Land jeden Tag ähnlich viele Männer durch den Tod an der Front wie durch Flucht verliert.
Andrii tauschte auf seinem Freigang seine Uniform gegen Zivilklamotten und fuhr nach Kiew, wo er sich erst einige Tage versteckte. Dann machte er sich auf in die ukrainischen Karpaten. Dort, in den Bergen, wartete er auf den Anruf, dass der Tag, das Land zu verlassen, gekommen sei. Nach Stationen in Deutschland und Polen, wo er seine Frau wiedertraf, ist er nun vorübergehend in Luxemburg gestrandet. Auch weil er hier Freunde hat, die er über die Neofolk-Szene in der Ukraine kennengelernt hatte und die ihm nun halfen.
Wie es weitergehen wird, müsse sich erst zeigen, sagt Andrii: „Bis ich nicht hundertprozentig davon überzeugt bin, zusammen mit meiner Frau sicher in der Ukraine leben zu können, gehe ich nicht zurück.“ Er und seine Frau müssten ihre Familien, die noch in der Ukraine sind, jetzt halt aus der Distanz unterstützen. „Aber wir sind immer noch getrieben und immer noch auf der Flucht“, sagt der 27-Jährige erschöpft: „Zuallererst brauchen wir einen Ort, wo wir zu Ruhe kommen, uns niederlassen können, wo wir sicher sind – und versuchen werden, all das zu verarbeiten und zu verstehen, was uns die letzten Wochen widerfahren ist.“
De Maart
@Guy Mathey
Naja, mein Herr dann lade ich Sie doch ein die Flinte zu schultern und mit gutem Beispiel vorzugehen. Etwas was Mitglieder meiner Familie im zweiten Weltkrieg getan haben.
Komisch dass dieser Scoob dass die ukrainische Armee wehruntaugliche zwangsrekrutiert , Militaerausweise faelscht ,in anderen Worten aus dem letzten Loch pfeift und einen Volkssturm organisiert noch nicht bei den grossen internationalen Nachichtensender und Presseagenturen Einzug gehalten hat .
Meine Empfehlung an alle Mitbürger*innen, welche ukrainische Kriegsdienstverweigerer kritisieren oder gar als Feiglinge oder abstempeln: Meldet euch doch selbst als Freiwillige in die ukrainische Armee, ihr werdet dort herzlich willkommen sein!
1987 wurde das Kriegsdienstverweigerungsrecht von der UN Vollversammlung als allgemeines Menschenrecht anerkannt. Leider wird es häufig nicht respektiert. Die Menschenrechte sollten uns jedoch stets als Grundlage dienen, wenn wir das Verhalten von Mitmenschen kritisch hinterfragen.
Krieg ist die Hölle. Aber ich kann den Jungen verstehen.Allerdings bei einem Verteidigungskrieg sieht die Sache anders aus. Wenn unser 'Enri morgen sagt:"Wir greifen Deutschland an". Dann würde er ohne mich auskommen müssen.Aber umgekehrt würde ich meine Landsleute unterstützen.Auch wenn's mein Hemd kosten würde. Und die Frage ist ja auch: Wie werden sie daheim empfangen wenn sie zurückkehren? Andrii wird wohl hier bleiben.Müssen.
Man kann sich mit Spenden an die Armee vor einer Mobilisierung freistellen lassen ? .Ukrainische Frontkaempfer die zum Teil schon mit dem Leben abgeschlossen haben ,muessen sich doch verarscht vorkommen . Man kann nicht gebetsmuehlenartig immer wieder wiederholen dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf ,ihn sogar gewinnen muss und gleichzeitig bei Uns Deserteure alimentieren .
Ich habe vollstes Verständnis für Andrii! Bei allem Verständnis für die Lage der Ukraine ist der Umstand, dass das Land das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht akzeptiert völlig inakzeptabel!
Die EU muss weitere Unterstützung der Ukraine von der Einhaltung dieses internationalen Rechts abhängig machen.
Zudem muss Luxemburg Kriegsdienstverweigerern einen sicheren Aufenthalt garantieren!
Ein "déjà vu". Nennt sich Zwangsrekrutierung, nur im eigenen Land. Wie steht es dann um die Sportler, sind ja mit Sicherheir fit und wehrtauglich oder mit den sogenannten Studenten im Ausland, die bisher nicht einberufen wurden. Gut gemacht Herr Selenskyj.
Während Andrii auf der Paräisserplaz seinen Csppo schlürft, riskieren junge Landsleute von ihm ihr Leben. Viel Spass bei der Durchreise, der Herr!