Mittwoch5. November 2025

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ÖsterreichAm eigenen Anspruch gescheiterter Ex-Kanzler Kurz inszeniert sich vor Gericht als Opfer

Österreich / Am eigenen Anspruch gescheiterter Ex-Kanzler Kurz inszeniert sich vor Gericht als Opfer
Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz: Der Lack des Wunderwuzzis ist längst ab Foto: Helmut Fohringer/APA/AFP

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Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) versuchte, sich am Freitag auf der Anklagebank als Opfer von Politjustiz und Missverständnissen zu inszenieren.

Es ist der Prozess des Jahres, obwohl es – gemessen am rechtsstaatlichen Aufwand – um eine strafrechtliche Lappalie geht: Der von seinen Hardcore-Fans noch immer messianisch verehrte Ex-ÖVP-Chef muss sich vor dem Wiener Landesgericht gemeinsam mit seinem früheren Kabinettschef Bernhard Bonelli und der Ex-Vizeparteichefin Bettina Glatz-Kremsner wegen des Verdachts der Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss verantworten. Dass die mitangeklagte Dame gleich am ersten Prozesstag am Mittwoch gegen Zahlung von 104.000 Euro und ein Fehlereingeständnis die Flucht nach vorn in die Diversion angetreten hat, macht die Sache für den bei seinem gestrigen Auftritt auf seiner weißen Weste beharrenden Kurz nicht leichter.

Neuer Stil, alte Politik

Alles dreht sich um die Frage, ob Kurz gelogen hat, als er 2020 im U-Ausschuss unter Wahrheitspflicht beteuerte, im Jahr davor in die Bestellung der Chefetage der staatlichen Industrieholding ÖBAG nicht aktiv eingebunden gewesen zu sein. Den gelernten Österreicher hätte es allerdings kaum gewundert, hätte Kurz einfach gesagt: Ja, natürlich habe ich als Regierungschef in diesen zentralen Personalfragen mitgemischt. So läuft das eben in Österreich. Und nicht nur dort ist es durchaus üblich, dass die jeweilige Regierung Vertrauensleute in den Schaltstellen staatsnaher Unternehmen platziert.

Doch Kurz war mit dem Anspruch angetreten, endlich Schluss zu machen mit dem alten Proporz-Gemauschel im Hinterzimmer, wo die jeweiligen Koalitionspartner unter Ausschluss der Öffentlichkeit den großen Postenschacher betrieben haben. Nicht zuletzt auf dem Versprechen eines „neuen Stils“ in der Politik beruhten sein Erfolg und sein Wunderwuzzi-Image – dem Kurz in den Niederungen der Tagespolitik freilich nicht gerecht wurde. Der Messias hatte sich selbst die Messlatte, an der er dann gemessen wurde, zu hoch gelegt.

Politisch abgestraft

Politisch wurde Kurz dafür längst abgestraft, indem ihn der grüne Koalitionspartner vor ziemlich genau zwei Jahren nach dem Auffliegen mehrerer Korruptionsverdachtsfälle im ÖVP-Umfeld über die Klinge springen ließ. Ob er aber auch zu Recht ein Fall für die Strafjustiz ist, bleibt eine spannende Frage nicht nur für den urteilenden Richter Michael Radasztics.

Für den Angeklagten im Großen Schwurgerichtssaal ist die Sache klar: Er plädiert auf „nicht schuldig“. Dass dies die Korruptionsstaatsanwaltschaft nicht ganz so sehen will, führt der einstige ÖVP-Chef auf eine große Verschwörung aus Opposition und Teilen der Justiz zurück: „Ich wusste, dass die Opposition in diesem Untersuchungsausschuss nicht nur das Ziel hat, mich anzupatzen, sondern sie wollten mich einfach zerstören.“ Und die Staatsanwaltschaft habe „immer, wenn es zwei Möglichkeiten gab, es auf die für mich ungünstigere interpretiert“. Der Angeklagte zweifelt nicht zum ersten Mal an Justitias Objektivität. Obwohl er sein Jura-Studium nicht abgeschlossen habe, hätte er das mitgenommen: „Vor dem Gesetz sind alle gleich.“ Kurz fühlt sich ungleich behandelt, sozusagen mit einem Promi-Malus belegt.

Virtuelle Hinterzimmer

Das Problem des jungen Alt-Kanzlers könnte aber weniger eine in der Tat Politikern gegenüber umtriebiger gewordene Justiz sein, als vielmehr die digitale Revolution. Denn das klassische Hinterzimmer, in dem der politische Kuhhandel ohne jegliches Protokoll betrieben wurde und dem Kurz den Kampf angesagt hatte, gibt es tatsächlich so nicht mehr. Das moderne Hinterzimmer ist ein virtueller Raum, in dem Vertraulichkeit oft nur eine vermeintliche ist. Wenn nur einer der Vertrauten nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Nachrichten zu löschen vergisst, dann können diese wie im konkreten Fall in einer Anklageschrift landen.

Dem vom Kurz-Spezi zum Kronzeugen gegen seinen früheren Chef mutierten Thomas Schmid war genau das passiert. Abertausende Chats und SMS, die eine Sicherungsfestplatte automatisch und ohne sein Wissen für den Ex-ÖBAG-Chef gespeichert hatte, wurden im Zuge der Ermittlungen beschlagnahmt und zeichnen nun ein Sittenbild der Hinterzimmerpolitik 2.0 – technisch gesehen völlig neu, inhaltlich wie eh und je.

Missverständliche Chats

In einem dieser gestern behandelten Chats geht es um Schmids Postenwünsche an den Kanzler kurz vor dem Platzen der damaligen FPÖ-ÖVP-Koalition am Ibiza-Skandal. Der wollte nicht nur ÖBAG-Chef werden, sondern auch noch eine Reihe von Aufsichtsratsposten. Kurz nannte seinen damaligen Vertrauten scherzhaft „Aufsichtsratssammler“ und schrieb zurück: „Kriegst eh alles, was du willst.“ Das will der Angeklagte aber heute nicht mehr als Zusage verstanden wissen, sondern als Ablehnung im Sinne von „Krieg einmal den Hals voll!“. Die Frage des Richters, warum dem Post dann drei Bussi-Smileys angefügt waren, erklärt Kurz mit seinen guten Umgangsformen. Schmid jedenfalls dürfte die angebliche Ablehnung nicht verstanden haben. Er schrieb zurück: „Ich liebe meinen Kanzler.“

Prozess bis ins Wahljahr

Ob sich der Richter mit der Version des Angeklagten, dem im Fall eines Schuldspruchs zumindest theoretisch bis zu drei Jahre Haft drohen, anfreunden kann, wird sich nicht so bald weisen. Dutzende Zeugen, darunter auch der über „Ibiza“ gestolperte Ex-FPÖ-Chef und Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache, werden noch zu hören sein, der Prozess sich wahrscheinlich bis ins kommende Wahljahr hineinziehen. Und selbst nach einem Freispruch ist Kurz noch nicht aus dem Schneider. Der Vorwurf der falschen Aussage ist nur ein Auftakt. Der Ex-Kanzler ist auch Beschuldigter in anderen Ermittlungsverfahren, etwa wegen der „Hofberichterstattung“ von Boulevardmedien, die mutmaßlich durch mit Steuergeld finanzierte Inserate erkauft worden sein soll. Zumindest seine Schwüre, kein politisches Comeback anzustreben, sind vor diesem Hintergrund glaubwürdig.