Mittwoch5. November 2025

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NordmazedonienAlbanische Minderheit sieht Fortschritte, doch Armut und Perspektivenmangel sind geblieben

Nordmazedonien / Albanische Minderheit sieht Fortschritte, doch Armut und Perspektivenmangel sind geblieben
Hochburg des mazedonischen Nationalismus: die Ruinen der abgebrannten Moschee in Prilep

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Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem albanischen Aufstand im heutigen Nordmazedonien hat sich das Verhältnis zwischen Mazedoniern und Albanern merklich entspannt. Doch nach wie vor plagen Armut und Perspektivlosigkeit den Vielvölkerstaat. Und die EU hilft kaum, ihren labilen Anwärter zu stabilisieren.

Das rote Fahnentuch ist längst verblichen. Die Flagge mit dem Albaner-Adler hat sich in dem mit einem Draht verschlossenen Tor der Gedenkstätte verhakt. Dahinter rollt der Wind eine leere Plastikflasche über das Plateau des hoch über Aracinovo (Haracine) gelegenen Soldatenfriedhofs. Schwere Grabplatten erinnern an die zehn örtlichen Kämpfer der „Nationalen Befreiungsarmee“ (UCK), die 2001 beim albanischen Aufstand im heutigen Nordmazedonien ihr Leben ließen.

„Wir hatten keine Wahl: Wir mussten zu den Waffen greifen“: UCK-Veteran Brahim Ajvazi in Aracinovo
„Wir hatten keine Wahl: Wir mussten zu den Waffen greifen“: UCK-Veteran Brahim Ajvazi in Aracinovo

„Der Krieg darf nicht vergessen werden“, sagt der 62-jährige Bahrim Ajvazi, während er Kriegsaufnahmen mit ihm als UCK-Kommandant in Kampfuniform zeigt. Er sei „stolz“, als Freiwilliger für sein Volk in den Krieg gezogen zu sein, versichert der frühere Bürgermeister des elf Kilometer von Skopje entfernten Albanerdorfes: „Aber die Jungen wissen oft nicht mehr, was wir damals durchmachen mussten. Sie stimmen heute selbst für mazedonische Parteien.“

Jahrzehntelang seien die Albaner „diskriminiert und verfolgt“ worden und hätten schon zu jugoslawischen Zeiten „nie dieselben Rechte“ wie die Mazedonier genossen, klagt der frühere Biologielehrer und heutige Marketing-Chef der mazedonischen Eisenbahnen: „Wir wollten den Krieg nicht, aber waren gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Wir kämpften gegen die Unterdrückung und hatten keine Wahl: Es ging um Freiheit oder Tod.“

Das blutige Kriegsjahrzehnt der 90er-Jahre im zerfallenen Jugoslawien war vorbei, der Kosovo-Krieg von 1999 endlich ausgestanden, als Anfang 2001 die Nachricht militärischer Scharmützel im mazedonisch-kosovarischen Grenzgebiet die Weltöffentlichkeit aufschreckte: Mit dem UCK-Angriff auf die Polizeistation in Tearce bei Tetovo begann am 22. Januar 2001 ein bürgerkriegsähnlicher Waffengang, der die internationale Gemeinschaft bis zum Sommer desselben Jahres kräftig auf Trab halten sollte.

Ein Jahrzehnt zuvor hatte das damalige Mazedonien mit der 1991 erklärten Unabhängigkeit als einziger der Nachfolgestaaten das zerfallende Jugoslawien ohne Krieg verlassen. Doch ein multikulturelles Idyll war der neue Vielvölkerstaat keineswegs. Obwohl albanische Parteien in Skopje stets mit am Regierungstisch saßen, war die Minderheit, die heute knapp ein Viertel der auf 1,8 Millionen Einwohner geschrumpften Bevölkerung ausmacht, in Behörden und Institutionen kaum repräsentiert. Die Verweigerung des Rechts auf Schulunterricht in der eigenen Sprache ergrimmte die Albaner genauso wie die verwehrte Ausbildung albanischer Lehrer oder die Ablehnung ihrer Forderung nach Albanisch als zweiter Amtssprache durch Skopje.

Als Aracinovo zur „Todeszone“ wurde

„Wir haben unsere Lektionen gelernt, Hass führt nirgendwohin“: der frühere Polizeikommandant Stojanche Angelov in Skopje
„Wir haben unsere Lektionen gelernt, Hass führt nirgendwohin“: der frühere Polizeikommandant Stojanche Angelov in Skopje

Die Spuren des Kriegs trägt Stojanche Angelov noch immer auf seinem vernarbten Rücken. Denn in Aracinovo hätte der frühere Vize-Kommandant der Spezialeinheit der mazedonischen Polizei im Juni 2001 fast sein Leben verloren. Seine Hauptschlagader sei damals im Häuserkampf vermutlich von der Kugel eines Scharfschützen getroffen worden, berichtet der 51-jährige Direktor des nationalen Krisenmanagement-Zentrums in Skopje: „Meine ganze Lunge war voller Blut. Niemand glaubte, dass ich überleben würde.“

Nicht nur Kämpfer und Waffen, sondern auch die Strategie hatte die mazedonische UCK von der UCK im nahen Kosovo übernommen: Etappenweise nahm die UCK in den überwiegend albanisch besiedelten Regionen im Grenzgebiet zu Kosovo mehrere Dörfer ein und erklärten sie nach Vertreibung der Mazedonier zum „befreiten Territorium“.

Als die UCK im März 2001 mit Tetovo die erste Stadt attackierte, ordnete Skopje die Mobilisierung an. Zumindest in ihren ersten Erklärungen habe die UCK damals mit der Abspaltung gedroht, so Angelov: „Die Albaner wollten einen Teil des Staatsterritoriums abtrennen. Was hätten wir denn tun sollen? Hätten wir sagen sollen: Okay, nehmt euch, was Ihr wollt? Wir hatten keine Wahl: Wir verteidigten unseren Staat vor dem Zerfall.“

Die heftigen, drei Tage währenden Kämpfe von Aracinovo sollten zum Wendepunkt des Waffengangs werden. Die mazedonischen Sicherheitskräfte seien gegenüber der UCK „militärisch haushoch überlegen“ gewesen, so Angelov: „Das Dorf war eingeschlossen. Wir hatten uns gut vorbereitet und griffen von allen Seiten auch mit Hubschraubern und Kampfjets an.“ Aracinovo sei damals zu einer „Todeszone“ geworden, erinnert sich UCK-Veteran Ajvazi: „Wir waren umzingelt und hatten keine Chance.“

Wäre das Blutvergießen eskaliert, wäre der Hass bis heute so groß, dass ein Zusammenleben unmöglich wäre

Stojanche Angelov, ehemaliger Vize-Kommandant einer mazedonischen Polizeieinheit

Doch ein Blutvergießen wie im Kroatien-, Bosnien- oder Kosovokrieg wollte der Westen unbedingt verhindern. Es sei die NATO gewesen, die damals „Stopp“ gesagt und in Aracinovo einen Waffenstillstand und den freien Abzug der UCK-Kämpfer erwirkt habe, sagt Angelov. „Enttäuscht“ habe damals nicht nur seine Einheit auf die erzwungene Feuerpause und auf das im August 2001 am Ohridsee unterzeichnete Friedensabkommen reagiert: „In Skopje demonstrierten Zehntausende gegen die Regierung – und gegen den Waffenstillstand.“

Spürbare Verbesserungen

Im Rückblick ist der einstige Krieger heute erleichtert über den abrupten Kriegsabbruch: „Wir hätten den Krieg militärisch gewinnen können, aber das hätte uns nichts gebracht.“ Trotz der zeitweisen Vertreibung von knapp einem Zehntel der Bevölkerung sei die Zahl der Todesopfer auf beiden Seiten mit weniger als 200 „relativ gering“ geblieben: „Wäre das Blutvergießen eskaliert, wäre der Hass bis heute so groß, dass ein Zusammenleben unmöglich wäre.“

Achtlos hasten die Passanten im Zentrum von Prilep an den Trümmern der vor 22 Jahren abgefackelten Moschee vorbei: Als zehn erst am Morgen mobilisierte Rekruten aus Prilep bei der Fahrt an die Front am 8. August 2001 bei Karkap unweit von Tetovo in einen Hinterhalt der UCK gerieten und getötet wurden, setzte in deren Heimatstadt eine wütende Menge das Gotteshaus in Brand.

„Die Wunden der Vergangenheit müssen gesäubert werden“: Friedensaktivist Boro Kitanoski in Prilep
„Die Wunden der Vergangenheit müssen gesäubert werden“: Friedensaktivist Boro Kitanoski in Prilep

Prilep sei noch immer eine „Hochburg des mazedonischen Nationalismus“, berichtet Boro Kitanoski, der 2001 selbst einen Vetter bei dem UCK-Hinterhalt verloren hatte. Dennoch spricht der Mitbegründer der Bürgerrechtsgruppe „Friedensaktion“ von „großen Fortschritten“ in den albanisch-mazedonischen Beziehungen in den letzten Jahren. Albanisch habe nun den Status einer Amtssprache. Und nicht nur die albanische Präsenz in den staatlichen Institutionen habe sich verbessert, sondern auch der Umgang im Alltag normalisiert: „Die Leute sprechen heute freier miteinander, auch über die Vergangenheit. Das war lange tabu.“

Aber Wunden können nur wirklich heilen, wenn sie gesäubert sind. Wir versuchen die Leute darum in einen konstruktiven Dialog miteinander zu bringen.

Boro Kitanoski, Mitbegründer der Bürgerrechtsgruppe „Friedensaktion“

2001 hatten Kitanoski und seine Mitstreiter vor allem für das Recht auf die Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen und gegen die schließlich 2005 abgeschaffte Wehrpflicht gekämpft. Heute organisiert die „Friedensaktion“ Workshops mit Kriegsveteranen, Jugendlichen oder Lehrern.

Ein Museum gegen das Vergessen

„Manchmal fragen uns die Leute: Warum reißt Ihr alte Wunden auf?“, berichtet der Versöhnungsaktivist: „Aber Wunden können nur wirklich heilen, wenn sie gesäubert sind. Wir versuchen die Leute darum, in einen konstruktiven Dialog zusammenzuführen. Denn wenn wir uns mit der Vergangenheit nicht auseinandersetzen, können wir auch nicht von ihr lernen.“

Oft sei der Krieg allerdings „vergessen“, bedauert Kitanoski. Die Albaner tendierten dazu, den Krieg zu glorifizieren, die Mazedonier dazu, ihn zu „verschweigen“: „Das Eingeständnis, dass die Albaner systematisch diskriminiert wurden, fällt den Mazedoniern oft schwer. Von den Albanern wird wiederum der hohe Preis des verherrlichten Krieges kaum diskutiert.“

Verblassende Erinnerung an den vergessenen Krieg: Der UCK-Soldatenfriedhof in Aracinovo, Nordmazedonien
Verblassende Erinnerung an den vergessenen Krieg: Der UCK-Soldatenfriedhof in Aracinovo, Nordmazedonien

Nur auf vorherige Anmeldung öffnen sich die geschlossenen Pforten des Kriegsmuseums in Skopjes albanischen Stadtteil Cair. Nein, es komme kaum noch jemand vorbei, berichtet achselzuckend Museumshüter Zija, während er die Besucher durch die verstaubten Ausstellungsräume führt. Verblichene Fotos von UCK-Veteranen, eine verblassende Erinnerung an den Krieg. „Wir würden gerne weitergeben, was im Krieg passiert ist. Denn die Jungen wissen wenig darüber“, versichert Zija vor dem Portrait seines gefallenen Vetters: „Doch wir haben hier nicht einmal Wasser und Strom. Wenn mit dem Museum nicht endlich etwas passiert, ist es in einigen Jahren völlig vergessen.“

„Zum Glück“ seien die Zeiten des Krieges vorbei, versichert in Aracinovo UCK-Veteran Ajvazi: „Doch die Armut ist geblieben. Das Leben hier ist nicht das, was wir uns damals erhofft haben.“ In den Schulen werde heute zwar auch auf Albanisch unterrichtet. Doch noch immer seien die Ohrid-Vereinbarungen zur Verbesserung der Lage der Albaner nicht vollständig umgesetzt – und verfüge Aracinovo weder über eine Kanalisation noch über eine anständige Trinkwasserversorgung. Skopje zeige kaum Interesse an den früheren Kriegsregionen: „Alle Regionen, in denen 2001 gekämpft wurde, sind heute wesentlich schlechter entwickelt als der Rest des Landes.“

Armut, Korruption und Mangel an Perspektiven

Wenn er könnte, würde er „sofort“ nach Deutschland emigrieren, seufzt im Dorfcafé ein 36-jähriger Familienvater. Als Tagelöhner komme er allenfalls auf einen Verdienst von 300 bis 400 Euro pro Monat: „Unsere Not ist der Grund, dass hier fast niemand Strom- und Wasserrechnungen bezahlt.“ Auch die albanischen Parteien und Lokalpolitiker wie Ajvazi macht der verbitterte Albaner für die miserable Lage verantwortlich – und klagt über Korruption. Bis zu 5.000 Euro müsse man berappen, um im Dorf an einen festen Job zu gelangen: „Vor dem Krieg konnte man sich wenigstens noch frei eine Arbeitsstelle suchen. Nun geht alles über die Parteien – und halten die Politiker die Hand auf.“

Die geringen Zuweisungen aus dem nationalen Budget seien für die Landgemeinde tatsächlich ein Problem, meint am Nebentisch der hagere Rentner Fatmir: „In Aracinovo fehlt ein Industriegebiet. Kein Betrieb siedelt sich hier an. Und alle Jungen gehen nach Deutschland.“ Doch auch die „tiefen Taschen unserer Politiker“ macht der 65-jährige für die Misere verantwortlich. Selbst als das Dorf jahrelang einen Abgeordneten im nationalen Parlament gestellt habe, sei das „kaum eine Hilfe“ gewesen: „Unsere Politiker schauen nur auf die eigenen Interessen. Sie kommen mit einer Plastiktüte ins Parlament – und verlassen es mit einem Sack voller Geld.“

Die ethnischen Spannungen haben sich im heutigen Nordmazedonien gemindert. Doch der Mangel an Perspektiven, Armut und Korruption sind beim EU-Daueranwärter geblieben. Dabei hatten die EU und NATO 2001 auch mit dem Versprechen einer raschen Westintegration des Landes das Ohrid-Abkommen erwirkt – und ein größeres Blutvergießen verhindert. Obwohl dem Balkanstaat bereits 2005 der offizielle Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt wurde, hat die EU seitdem nur wenig getan, den labilen Vielvölkerstaat zu stabilisieren. Im Gegenteil: Die EU-Nachbarn hemmen die mazedonische EU-Annäherung nach Kräften.

Ob Mazedonier, Albaner oder andere Völker: Wir müssen hier alle zusammenleben. Denn ein anderes Land haben wir nicht.

Stojanche Angelov

Kein Rückfall in blutige Zeiten zu befürchten

Jahrelang war es Griechenland, das die EU- und NATO-Annäherung der Nachbarn wegen des missliebigen Landesnamens „Mazedonien“ mit Verweis auf die gleichnamige Provinz per Veto blockierte. Nach der von Athen erzwungenen Umbenennung gelang es Nordmazedonien 2019 zwar, der NATO beizutreten. Doch seit 2021 tritt nun der EU-Nachbar Bulgarien auf die Beitrittsbremse, um Skopje zu einer erneuten Verfassungsänderung zugunsten der bulgarischen Mini-Minderheit des Landes zu zwingen.

Die stockende EU-Annäherung habe mit den Beziehungen zwischen der mazedonischen Mehr- und der albanischen Minderheit eigentlich direkt nichts zu tun, aber doch Auswirkungen auf das sensible Verhältnis, so Kitanoski. Die Störmanöver der EU-Nachbarn hätten stets für neue nationalistische Wogen der Empörung gesorgt: „Und wenn der Nationalismus zunimmt, trifft dies alle außerhalb des eigenen ethnischen Spektrums – auch die Albaner.“ Er fürchte, dass die „große Enttäuschung“ über das Ausbleiben der gelobten EU-Zukunft sowohl bei den Mazedoniern als auch Albanern die nationalistischen Kräfte stärken könne: „Wir werden sehen. Die nächsten Wahlen kommen bald.“

Ein Rückfall in die blutigen Zeiten des albanischen Aufstands von 2001 ist im heutigen Nordmazedonien trotz aller Probleme aber kaum mehr zu befürchten. Einträchtig baumeln mazedonische und albanische Flaggen über den Verkaufsständen im „BIT Pazar“ in Skopje. Es sei „ungerechtfertigt“ von den Albanern gewesen, den „Krieg anzuzetteln“, ist Angelov noch immer überzeugt: „Für mehr Rechte hätten sie auch auf friedliche Weise kämpfen können.“

Doch er respektiere seine einstigen Gegner und sei mit einem früheren UCK-Kommandanten inzwischen auch befreundet, sagt der einstige Polizeikommandant: „Beide Seiten haben ihre Lektion gelernt: Hass führt nirgendwohin. Wir haben uns gegenseitig getötet. Doch das ist vorbei. Ob Mazedonier, Albaner oder andere Völker: Wir müssen hier alle zusammenleben. Denn ein anderes Land haben wir nicht.“