Samstag27. Dezember 2025

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RomanAgnes Imhof erzählt in „Die Kastanien an der Gracht“ von Miep Gies, die Anne Frank und ihrer Familie half

Roman / Agnes Imhof erzählt in „Die Kastanien an der Gracht“ von Miep Gies, die Anne Frank und ihrer Familie half
Sah sich nie als Heldin: Miep Gies, hier im Jahr 1987 Foto: Public Domain Dedication (CC0)/Bogaerts, Rob/Anefo

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Sie half Anne Frank und ihren Angehörigen: Miep Gies. Eine Ikone wollte sie nie sein, Agnes Imhof widmet ihr dennoch den Roman „Die Kastanien an der Gracht“ auf. Einblicke in das bewegte Leben einer bescheidenen Heldin.

Miep Gies ist längst keine Unbekannte mehr. In Düsseldorf ist ein Platz nach ihr benannt, in Gütersloh führt der Miep-Gies-Weg an der Anna-Frank-Schule vorbei – wie naheliegend! Miep Gies und Anne Frank, ihre Namen sind untrennbar miteinander verbunden. Und doch: Wer vor Jahren oder Jahrzehnten der kleinen Frau aus Amsterdam begegnete, hätte in ihr nie eine wahre Heldin, eine mutige Beschützerin der ihr anvertrauten Menschen gewähnt, die ihr Leben für etwas riskierte, was ihr bis zum Ende ihrer Tage wichtig blieb: die Freiheit und Würde des Menschen. „Ich bin keine Heldin“, hat Miep Gies immer wieder betont, „ich habe nur meine Pflicht getan, das, was einfache Menschen in außergewöhnlichen Zeiten tun können. Man hat mich gebeten zu helfen, und ich habe geholfen, so gut es ging.“ Mit diesen eher lakonischen Worten wehrte Miep Gies stets Versuche ab, sie zu einer Art Ikone zu etablieren.

Am Rande einer Anne-Frank-Ausstellung, die 1994 in Berlin eröffnet wurde, erzählte mir Miep Gies von ihren Bemühungen, die Erinnerung an Anne und ihre Familie wachzuhalten, vom nahezu alltäglichen der Shoah zu berichten – der Verfolgung einer Menschengemeinschaft nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum. Geschichten von kleinen und großen Repressalien, die seit Mitte der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zum deutschen, und nach Beginn des Zweiten Weltkriegs auch zum Alltag in den besetzten Gebieten Europas wurde. Sie berichtete aber auch von der Zivilcourage vieler Menschen in den Niederlanden, die diese Repressalien gegen ihre Freunde und Nachbarn nicht unwidersprochen hinnehmen wollten. Und ja, sie erzählte auch von ihrer Furcht, die das heutige Wiederauferstehen der Rechten in Europa in ihr auslöste.

Man hat mich gebeten zu helfen, und ich habe geholfen, so gut es ging

Miep Gies, Helferin von Anne Frank und ihrer Familie

Erst vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des „Tagebuchs der Anne Frank“ – es wurde unter dem niederländischen Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus) erstmals 1947 in Amsterdam herausgegeben – entschloss sich Miep Gies, ermuntert von der amerikanischen Autorin Alison Leslie Gold, ihre eigenen Erinnerungen an die Zeit mit Anne Frank aufzuschreiben. Angelegt an diese Aufzeichnungen hat nun die Münchner Autorin Agnes Imhof den Roman „Die Kastanien an der Gracht – Miep Gies und das Tagebuch der Anne Frank“ über Miep Gies und die Geschichte des Hinterhauses verfasst.

Bekanntes neu erzählen

Eine Geschichte, eine Erzählung aufschreiben, die ohnehin jeder kennt? Ist das nicht ein gewagtes Unterfangen, ein Versuch, der bereits von Beginn an der Fülle von Dokumenten, Zeitzeugenaussagen und Erinnerungen unterlegen sein muss? Was kann der Roman, geschrieben von einer Frau, die drei Jahrzehnte nach den Ereignissen im Achterhuis geboren wurde, Neues oder Anderes bringen, als die schon veröffentlichten Arbeiten? Es ist der veränderte Blickwinkel, von dem aus Agnes Imhof die Geschichte betrachtet, der das Buch lesenswert macht.

Eintrag von Anne Frank in ein Freundschaftsalbum
Eintrag von Anne Frank in ein Freundschaftsalbum Foto: AP/Peter Dejong/AP/dpa

Natürlich geht es um die Ereignisse im Amsterdamer Versteck, um die Familien Frank, van Pels, den Zahnarzt Fritz Pfeffer. Der Roman berichtet von den Schwierigkeiten, die die Helfer im von den Deutschen besetzten Amsterdam hatten, die Versteckten zu versorgen. Lebensmittel gab es nur auf Karten, die mussten besorgt oder auch gefälscht werden. Dann mussten die Lebensmittel für die acht im Hinterhaus lebenden Menschen aber auch dorthin gebracht werden – und die Abfälle von dort wieder hinaus. Bei alledem durften die Arbeiter in der Opecta-Filiale, die auch nach dem Untertauchen dort weiter tätig waren, nichts von den Bewegungen über ihren Köpfen mitbekommen. Ein gewaltiges logistisches Vorhaben, aber vor allem auch eine gewaltige moralische Herausforderung galt es zu bewältigen.

Hilfe gibt, wer Hilfe empfing

Und genau davon erzählt der Roman Imhofs. Er erzählt von der jungen holländischen Frau namens Miep Gies, die im Februar 1909 in Wien als Hermine Santrouschitz geboren wurde. Das Mädchen aus einer Arbeiterfamilie war gerade fünf Jahre alt, als der Erste Weltkrieg vom Zaun gebrochen wurde. Die ohnehin schon prekäre Lage der Familie verschärfte sich noch durch die Lebensmittelknappheit in den ausgehenden Kriegsjahren und in der Nachkriegszeit. Zwar kehrte Hermines Vater von der Front heim, doch Arbeit, um die Familie zu ernähren war kaum zu bekommen. 1919 wurde noch eine Schwester geboren, nun war es fast aussichtslos, die Familie heil durch die Zeiten zu bringen. Ein solidarisches Arbeiterprojekt sollte Hilfe bringen: Eine niederländische Arbeiterbewegung hatte Hilfe für Wiener Kinder organisiert, deren Familien sich in Not befanden. Die Kinder wurden in Holland an Gastfamilien vermittelt, die sie für einen gewissen Zeitraum aufnahmen. So kam die kleine Hermine in die Familie Nieuwenhuis nach Leiden.

Eigentlich sollte der Aufenthalt nur drei Monate dauern, doch da sich das Mädchen nur langsam erholte, wurde er mehrfach verlängert. Aus Hermine wurde langsam Miep – die Pflegeeltern und die fünf Geschwister fanden, dass ihr eigentlicher Name zu pompös klinge. Miep fühlte sich wohl im Kreise „ihrer“ holländischen Familie, die sie so vorbehaltlos und liebevoll aufgenommen hatte. Schließlich kamen beide Elternpaare überein, dass sie in Holland bleiben sollte. „Eine kleine unterernährte elfjährige Wienerin mit dem Schild um den Hals hatte sich in eine kräftige, selbständige Holländerin verwandelt“, schrieb Miep Gies in ihren Erinnerungen. In eine junge Frau, die Hilfe erfahren hatte und sich schwor, selbst zu helfen, sollte irgendwer dieser Hilfe bedürfen. So schilderte es Agnes Imhof in ihrem Roman.

Blick auf die Helfenden

Die Autorin berichtet von den vielen alltäglichen Schwierigkeiten, die es mit sich brachte, die Versteckten zu versorgen. Doch sie erzählt auch von den inneren Kämpfen von Miep, die doch bei allem eine junge Frau war, die glücklich sein, lieben und geliebt sein wollte. Und die bei allem Mut, den sie für die Unterstützung der Franks aufbrachte, auch Ängste hatte. Die niemals vergessen konnte, dass der Schritt, die Verfolgten zu verstecken, auch sie bedrohte: mit Lagerhaft zumindest, wenn nicht auch mit der Todesstrafe.

Allein dafür lohnt sich die Lektüre: Gerade auch für jüngere Generationen, die wohl alle das Tagebuch der Anne Frank aus dem Schulunterricht kennen, doch wohl kaum die Geschichte der Menschen, die dazu beitrugen, Anne und ihre Familie über zwei Jahre zu verstecken. Eben jene zwei Jahre, in denen das weltberühmte Zeugnis geschrieben wurde.

Cover „Die Kastanien an der Gracht“
Cover „Die Kastanien an der Gracht“ Quelle: Piper Verlag

Agnes Imhof. Die Kastanien an der Gracht – Miep Gies und das Tagebuch der Anne Frank. Piper Verlag 2024. Paperback.16,00 Euro. ISBN 978-3-492-06427-9