Das LuxFilmFest ist seit jeher ein Panorama-Festival, welches sich sehr viel Mühe gibt, der Kinoaktualität aus allen Ecken der Welt Rechnung zu tragen und dies in seinem Programm widerspiegelt. Geschlechterparität in den Regiestühlen ist dabei von ähnlicher Wichtigkeit wie die Herkunft der Filme. Wenn auch vier der acht Filme europäisch sind, geht die kinematografische Reise sonst über den süd-, hoch zum nordamerikanischen Kontinent, bis weit in den Osten über den Iran und die Philippinen.
Eine Überraschung
Von der britischen Insel stammt Luna Carmoons Debütfilm „Hoard“, der auf den ersten Blick wie eine Routineangelegenheit in Sachen britisches Sozialdrama anmutet. Spätestens nach der ersten halben Stunde zeigt ihr Film sein eigentliches Gesicht und seine Daseinsberechtigung im diesjährigen Wettbewerb. Carmoon erzählt vom Leben der jungen Maria, ihrer Kindheit mit und ihrem Heranwachsen ohne ihre Mutter im London der späten 80er und 90er. „Hoard“ ist nicht nur ein Film über Generationstraumata, sondern auch einer über sexuelles Frühlingserwachen und über die Tatsache, dass Pubertät einfach nur messy ist. Unterstützt durch die überragend magnetisierende Leinwandpräsenz von Saura Lightfoot Leon, zeichnet Luna Carmoon einen – wie die letzten Momente vor dem Abspann zeigen – ungemütlich persönlichen Film, der keine Angst hat, die Codes der Coming-of-age-Geschichte weiterzudenken und sich in Ecken wagt, in die sich diese Filme eigentlich nicht trauen.
Mit an Bord ist unter anderem auch „Stranger Things“-Star Joseph Quinn, der zusamment mit Saura Lightfoot Leon regelrecht alles gibt. Die Körperlichkeit des Films alleine macht „Hoard“ in der britischen Filmlandschaft einzigartig. Luna Carmoon reiht sich mit ihrem Film in eine Linie von Filmemacherinnen ein – Charlotte Wells und „Aftersun“, Charlotte Regan und „Scrapper“ –, die sich der langen Geschichte des britischen Sozialdramas sehr wohl bewusst sind, dieses aber, fernab von politischen Postulaten, vielleicht nicht neu erfinden, aber dennoch weiterdenken und -deklinieren. Eine Überraschung und eines der wenigen Highlights des Wettbewerbes, leider.
„Il pleut dans la maison“ der belgischen Filmemacherin Paloma Sermon-Daï ist „Hoard“ in einigen Punkten nicht unähnlich. Es dreht sich um zwei Geschwister, die die Abwesenheit der Elternfigur anders zu verarbeiten und anders damit zu leben haben. In einem nicht weiter benannten belgischen Urlaubsort leben Purdey und Makenzy in einem verfallenen Haus. Die Mutter – gespielt von Louise Manteau, zuletzt in Jacques Molitors „Kommunioun“ gesehen – verschwindet regelmäßig, was dazu führt, dass die beiden Jugendlichen irgendwie über die Runden kommen müssen. Während bei Carmoon eine ganz spezifische Filmtradition auf erfrischende Wege umgeleitet wird, ist das bei „Il pleut dans la maison“ – die Dardennes lassen grüßen! – leider gar nicht der Fall. Der Cinéma-vérité-Aspekt stagniert ziemlich schnell und alles dreht sich irgendwann im Kreis. Was, trotz toller, ungeschliffener Spieler im Zentrum, bei einer Länge von knapp 80 Minuten frustriert und stellenweise sogar langweilt.
Ein weiterer kurzer und europäischer Wettbewerbsbeitrag, dessen Legitimität im Wettbewerb man anzweifeln könnte, ist „Day of the Tiger“ von Andrei Tănase aus Rumänien. Im Mittelpunkt steht eine Frau, eine Tierärztin in einem Zoo, die nicht nur mit dem Tod ihres Neugeborenen zu kämpfen hat, sondern sich auch noch auf die Suche eines Tigers zu machen hat, der sich über Nacht aus dem Zoostaub gemacht hat. „Day of the Tiger“ ist ein sehr konventionell erzählter Film, der sich mit schwerfälliger Symbolik – die dem rumänischen Kino schon länger anhaftet und Radu Jude dekonstruktiv den Krieg erklärt hat – schmückt, um irgendwie etwas über animalische Triebe, Trauerarbeit und das menschliche Miteinander zu erzählen versucht.
Ein totes Neugeborenes ist auch in Stefanie Kolks Film „Milk“ der dramaturgische Katalysator für das Geschehen. Wenige Tage nach dem Tod von Robins Kind fängt sie an, Milch zu produzieren. Aber anstatt sich derer zu entledigen, entscheidet sie, sie zu spenden. Einfacher gesagt als getan.
Sozio-politische Gründe
Zwei Filmlandschaften, die auf Festivals seit jeher gepusht und gezeigt werden, sind die iranischen und die brasilianischen. Das hat natürlich auch seine sozio-politischen Gründe. Die Menschenrechtslagen in beiden Ländern sind nicht die allereinfachsten. Repression der politischen Entscheider sind im iranischen Kino hinlänglich bekannt und überhaupt ist das Leben dort nicht das allereinfachste. Im südamerikanischen Brasilien hingegen hat es die LGBTQIA±Gemeinschaft nicht erst seit der Bolsonaro-Präsidentschaft schwer. „Terrestrial Verses“ von Ali Asgari, dessen Film „Until Tomorrow“ vor zwei Jahren außer Wettbewerb beim LuxFilmFest zu sehen war, ist eine mit festen Einstellungen erzählte, „for a lack of a better word“: Sketchfolge, in der die traurige Absurdität des iranischen institutionellen Apparates anhand von mehr oder minder unterhaltsamen Situationen preisgelegt wird. Man ist weit weg von Jafar Panahis persönlichen oder Asghar Farhadis Moralstücken.
„Toll“ von Carolina Markowicz ist, wie die vorhin besprochenen Filme, einer voll guter Absichten. Genau wie die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn, die jedoch bedenkliche Züge bekommt. Suellen arbeitet auf einer Maut-Station und bringt dadurch ihren jugendlichen Sohn durch. Dieser mag es, sich glitzy anzuziehen und online Ella-Fitzgerald-Playbackshows darzubieten. Die Mutter ist wenig amused von Tiquinhos femininer Seite und entscheidet, ihn von seiner potenziellen Homosexualität kurieren zu wollen. Was jedoch viel teurer ist, als vorerst angenommen. Sie erwägt drastischere Maßnahmen, um an das Geld zu kommen … Trotz toller Ansätze wird man auch hier ein gewisses Déjà-vu-Gefühl nicht los; vor allem weiß sich die Filmemacherin nicht im Ton zu entscheiden. „Toll“ reißt vieles an, weiß es aber schlussendlich nicht zu einem kohärenten Ganzen zusammenzubringen. Um vom verpfuschten Ende gar nicht einmal zu sprechen.
Nachdem die Herren Turner Ross und Bill Ross IV mit ihrem „Bloody Nose, Empty Pockets“ einschlugen wie eine Bombe, waren die Erwartungen groß, was ihren neuen Film angehen würde. „Gasoline Rainbow“ ist aber eine ernüchternde Erfahrung. Den Reisen einer Gruppe Jugendlicher aus ihrer Midwest-Pampa an die Westküste und der Party am Ende der Welt gehen sehr schnell die Puste aus. Der dokumentarische Einschlag macht der ganzen Chose keinen Gefallen. Bei allem Freilauf wirkt das Ende schwerfällig konstruiert, was einen sehr zähen Beigeschmack auslöst. Schade.
„Politische Sensibilität“

Der überraschende Außenseiter in diesem Wettbewerb bleibt in jeder Hinsicht, auch nach fast zwei Jahrzehnten internationaler Festivalliebe, der Philippine Lav Diaz. „Essential Truths of the Lake“ ist der zweite Teil einer Trilogie um einen Polizeibeamten, der sich auf die Suche nach einer seit 15 Jahren verschollenen Frau macht. So produktiv wie Hong Sang-soo (wobei seine Filme wenigstens dreimal so lang sind wie die des koreanischen Kollegen), fängt dieser 215-Minuten-Film an wie ein klassisch strukturierter Kriminalfilm, der jedoch in Gefilde hineinrutscht, die nur einem Lav Diaz in den Sinn kommen. Seit der Zeit des philippinischen Strongman Rodrigo Duterte haben seine Filme eine politische Sensibilität hinzubekommen. Dass nach einem Vulkanausbruch die Landschaft, in der sich die Figuren bewegen, unter einer undurchdringlichen Staubschicht liegt, gibt dem Film nach fast zwei Stunden eine tragische Komponente. Op Lav Diaz und sein Film heute Abend jedoch einen Preis gewinnen, liegt weniger unter der Staubschicht, als in den Sternen.
Alles in allem ist der diesjährige Spielfilmwettbewerb, das muss leider einfach festgestellt werden, schwach. Wenn das die Highlights der letzten zwölf Filmmonate waren, dann war es ein schlechtes Kinojahr. Tatsächlich aber waren außerhalb des Wettbewerbs eine ganze Reihe Filme zu sehen, die problemlos den einen oder anderen gesetzten Film hätten ersetzen können: „The Sweet East“ hätte die Portion Americana von „Gasoline Rainbow“ gedeckt, die fantastische luxo-argentinische Koproduktion „The Delinquents“ hätte einen der südamerikanischen Titel verdrängen können und der schwedische Film „Paradise is Burning“ wäre eine super Alternative zum belgischen Wettbewerbsfilm gewesen.
De Maart
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