Begräbnis von Alexej NawalnyAbschied von Russlands Hoffnung

Begräbnis von Alexej Nawalny / Abschied von Russlands Hoffnung
Alexej Nawalnys Mutter, Lyudmila Nawalnaja (M.), und sein Vater Anatoly Nawalny (2.v.l.) stehen hinter dem Geistlichen während der Trauerfeier auf dem Borissowo-Friedhof Foto: Olga Maltseva/AFP

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Sie rufen „Na-wal-ny“ und „Nein zum Krieg“: Trotz Großaufgebot der Polizei sind in Moskau Tausende Menschen zusammengekommen, um dem in Haft ums Leben gekommenen russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ihr letztes Geleit zu geben. Es ist auch ein politischer Abschied.

Als der schwarze Leichenwagen mit dem Sarg von Alexej Nawalny die Kircheneinfahrt passiert, klatscht die Menge. „Na-wal-ny, Na-wal-ny, Na-wal-ny“, rufen Tausende von Frauen und Männern, die an diesem kühlen Freitag zur Kirche der Gottesmutter-Ikone „Lindere mein Leid“ in den Südosten Moskaus geradezu gepilgert sind. Sie wollen sich von ihrem Idol, der symbolgewordenen Hoffnung für Veränderungen in Russland, verabschieden. Sie sind aus Nowosibirsk hierhergefahren, aus Saratow, aus Sankt Petersburg. Manche verbrachten zwei Nächte im Zug, um sich vor Nawalny zu verbeugen. Sie halten Nelken in der Hand und Rosen und Astern. „Alexej, wir vergessen dich nie“, rufen sie immer wieder.

Manche haben Tränen in den Augen. Dicht an dicht stehen sie im Kirchenvorhof und in den Straßen nebenan, sie klettern auf die Schneehügel und schwenken mit ihren Blumen. „Danke, Alexej!“

Die Abdankungsmesse wird zu einer Kundgebung. Nach einer Zeit skandieren die Menschen „Putin ist ein Mörder“ und „Russland wird frei sein“. Die Hundertschaften von Polizisten lassen sie gewähren. Eine solche politische Versammlung hat Moskau seit Jahren nicht mehr gesehen. Erst als der Glöckner hoch oben in der Kirche die Glocken läuten lässt, herrscht eine traurige Stille über Marjino. In diesem Stadtteil hatte Nawalny mit seiner Frau Julia, seiner Tochter Darja und seinem Sohn Sachar einst gelebt. Julia Nawalnaja und die Kinder können aus Sicherheitsgründen nicht nach Russland einreisen. „Ljoscha, vielen Dank für 26 Jahre absoluten Glücks. Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll, aber ich werde versuchen, dich dort oben glücklich zu machen. Wir werden uns eines Tages treffen. Ich habe so viele unerzählte Geschichten für dich und so viele Lieder für dich auf meinem Handy gespeichert, dumme und lustige, um ehrlich zu sein, schreckliche Lieder, aber sie handeln von uns, und ich wollte unbedingt, dass du sie hörst“, schrieb Julia Nawalnaja bei Instagram.

Ljoscha, vielen Dank für 26 Jahre absoluten Glücks. Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll, aber ich werde versuchen, dich dort oben glücklich zu machen.

Julia Nawalnaja, die Ehefrau auf Instagram

Die Behörden hatten ihr Einschüchterungspotenzial seit Tagen hochgefahren. Am Trauertag stehen an den Straßen entlang alle fünf bis zehn Meter Männer der Nationalgarde und der Spezialpolizei Omon, Polizisten patrouillieren an Metroausgängen und an Brückenzugängen, Sicherheitskräfte in Zivil filmen, in den Parks sitzen Polizisten hoch zu Ross. Die Mobilfunkverbindungen sind gestört, das Internet funktioniert rund um die Kirche und auch um den Friedhof nicht. Immer wieder brüllen Polizisten, die Menschen sollten die Wege nicht blockieren. Doch die Menschen, jung wie alt, schreckt das alles nicht. „Wir vergessen dich nie! Wir werden nicht aufgeben!“, rufen sie.

Wut, Trauer und Hilfslosigkeit

Nur langsam lassen zwei Polizisten die Menschen nach genauer Kontrolle in die Kirche hinein. Nach 40 Minuten ist der Abdankungsgottesdienst vorbei. Der tote 47-Jährige, der am 16. Februar in der Strafkolonie „Polarwolf“ hinterm Polarkreis sein Leben verlor, liegt im offenen Grab aufgebahrt. Seine Eltern Ljudmila und Anatoli sitzen in der Schummrigkeit unter der Kuppel, der Priester betet auf Altkirchenslawisch. Etwa 300 Menschen werden es am Ende geschafft haben, sich von Nawalny im russisch-orthodoxen Gotteshaus zu verabschieden, bevor sein Sarg zurück in den Leichenwagen getragen und zum Borissowo-Friedhof zehn Autominuten weiter gebracht wird. Die Menschen klatschen wieder, werfen ihre Blumen auf den Wagen, ziehen in einer kilometerweiten Prozession zum Friedhof.

Als Alexej starb, stürzte meine Welt ein. Alles vorbei, die Hoffnung tot.

Swetlana

„Als Alexej starb, stürzte meine Welt ein. Alles vorbei, die Hoffnung tot“, sagt Swetlana, die aus einer Kleinstadt an der Wolga nach Moskau gekommen ist. „Doch Alexej lächelte immer, selbst hinter Gittern hat er uns erheitert. Ich versuche nun auch zu lächeln. Dem Staat, der uns so viel nimmt, der uns nicht einmal Blumen für einen Toten ablegen lässt, ins Gesicht zu lachen“, sagt die 51-Jährige, die drei Stunden an der Kirche angestanden hat. Sie klingt trotzig, doch lachen kann sie nicht. Sie bricht in Tränen aus. Auch Polina, einer 28-Jährigen, laufen Tränen über die Wangen, als sie den Weg an den vielen Polizisten vorbei sucht, um sich in den Zug der Trauernden zum Friedhof einzureihen. „Seit zwei Jahren spüre ich gleichzeitig Wut, Hilflosigkeit, Trauer. Ich bin für mich hier. Ich will mir selbst beweisen, dass wir nun für Alexei, für unser Land selbst kämpfen müssen. Zu lange saß ich nur gleichgültig zu Hause, dachte, irgendeiner werde es schon machen, dass ich in einem freien Land leben kann. Ich ging selten zu Straßenprotesten, vertraute auf andere. Aber nein, ich bin es selbst, die dafür einstehen muss. Das ist Alexejs Vermächtnis.“

Druck auf Leichenwagenfahrer

So sprechen viele rund um die Kirche und auf dem Weg zum Friedhof. Sagen, Nawalny habe sie gelehrt, zu politischen Subjekten zu werden. „Wir sind uns der Risiken bewusst, in einer Diktatur zu leben, in der es immer düsterer wird. Aber wir sind nicht allein. Ich sehe so viele Menschen hier, die genauso denken wie ich. Das stärkt“, sagt die 40-jährige Natalja. Sie sei zusammengebrochen, als sie von Nawalnys Tod erfahren habe. Dann aber habe sie ein Lied für den Oppositionspolitiker geschrieben, das habe ihr Kraft gegeben. „Es freut mich, hier zu sehen, dass es in unserem Land doch noch vernünftige Menschen gibt“, sagt sie und weint wieder. Später hallt wieder mehrmals ein lautes „Nein zum Krieg“ rund um die Kirche. Der Abschied ist auch ein politischer. Ein rührender und trauriger. Trotz der Niederträchtigkeiten des Staates in den Tagen vor der Beerdigung.

Dass Nawalny selbst als Leichnam die Politik des Landes mitbestimmt, zeigt der Umgang mit ihm und seiner Familie nach dessen Tod, den sein Team, seine Anhänger und auch die EU als politischen Mord bezeichnen. Erst war überhaupt nicht klar, wo sich die sterblichen Überreste des Oppositionellen befinden. Ljudmila Nawalnaja, die Mutter des 47-Jährigen, suchte in Nordwestsibirien tagelang nach ihrem Sohn. Die Behörden hatten sie immer wieder vertröstet, auch unter Druck gesetzt. Sie sollte einer stillen Trauerfeier zustimmen, nur im engsten Kreis. Sogar Leichenwagenfahrer wurden von den Behörden unter Druck gesetzt, um Nawalnys Leichnam nicht in die Kirche zu fahren.

Team Nawalny ist Schikanen gewohnt

Das Team Nawalny ist Schikanen seit jeher gewohnt. Mittlerweile operiert es aus dem Ausland, in Russland gelten die Organisationen Nawalnys als extremistisch. „Jeder, der will, kann sich von Alexej verabschieden“, sagte Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch immer wieder. Doch so einfach ist es nicht.

Zum Friedhof lässt die Polizei die Trauernden bis zum späten Abend nicht, Spezialpolizisten in Vollmontur sperren den Zugang. Selbst in Hinterhöfen, die kilometerweit davon weg sind, stellen Polizisten Absperrungen auf, damit sich die Menschen keine Schleichwege suchen. „Ich will doch nur Blumen ablegen. Wir werden doch sein Lächeln nie mehr in echt sehen“, sagt Swetlana und versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Mehrere Hundert Menschen harren bis in die Dunkelheit an den Absperrungen aus, schalten die Lichter ihrer Telefone an und bewegen sich nicht fort. Autos, die vorbeifahren, hupen aus Solidarität. Manche Trauernde lassen ihre Blumen im Schnee entlang den Straßen liegen, stellen Kerzen und Bilder von Nawalny aus. Schnell bilden sich Menschengruppen drumherum und gedenken des Toten.

Die Behörden geben schließlich nach, Polizisten schleppen mehrere Metalldetektoren zum Friedhof herbei, lassen nach und nach Menschen zum frischen Grab. Ruhig legen sie ihre Blumen dort nieder, gehen verweint zur Metro. In der Ferne ist ein „Nein zum Krieg“ zu hören. „Alexej, du bist nun frei!“, sagt eine ältere Frau.