Es ist nicht das erste Mal, dass sich Wladimir Putin als Hobby-Historiker versucht. Unlängst nahm er in der Zeit das Gedenken an den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion zum Anlass, um seinem Ärger über das aktuelle russisch-europäische Verhältnis Luft zu machen. Im Vorjahr veröffentlichte er einen Beitrag über die Ursprünge des Zweiten Weltkriegs, in dem er die Bedeutung des Hitler-Stalin-Pakts bestritt. Nun hat der Kreml-Chef (vermutlich mit fachlicher Hilfe) abermals einen längeren Text verfasst, der nun auf der Kreml-Homepage veröffentlicht wurde – ausgerechnet in einer Hochphase der russischen Corona-Infektionen mit einem Todesfall-Rekord von zuletzt 780 Fällen an einem Tag.
Doch hier geht es nicht um ein paar Tote mehr oder weniger in der Statistik, es geht um – in den Augen des Kreml – Wichtigeres: um den russischen Staat und seine vorrangige Existenzberechtigung im Vergleich zur Ukraine. Unlängst bei seiner Bürgersprechstunde hatte Putin angekündigt, dass er demnächst schriftlich seine vielfach geäußerte These von der historischen Zusammengehörigkeit der Russen und Ukrainer darlegen werde. Und so ist es gekommen: „Ein Volk, ein geschlossenes Ganzes“ seien beide Nationen, heißt es zu Beginn.
Putin als Hobby-Historiker
Die neuerdings intensivierte Publikationstätigkeit des Kreml-Chefs bedeutet zweierlei: Einerseits inszeniert sich der 68-Jährige damit als erfahrener Staatenlenker, der sich den wirklich großen Fragen unserer Zeit widmet, anstatt sich im tagespolitischen Kleinkram zu verheddern. Andererseits ist der aktuelle Aufsatz wie schon die früheren eben keine streng historische Abhandlung, sondern drückt, ausgehend von geschichtlichen Ereignissen, das Selbstverständnis des offiziellen Russland und die Stoßrichtung der Kreml-Politik aus.
Doch zunächst holt Putin weit aus. Seine Abhandlung beginnt im Mittelalter, als mit der sogenannten Rus das erste ostslawische Staatsgebilde entstand. Wer dessen historische Nachfolge beanspruchen kann – Russen oder Ukrainer –, ist bis heute eine hochumstrittene Frage. Wenig verwunderlich, dass Putin die Moskauer Fürsten als Bewahrer der Rus betrachtet und in großrussischer Manier lediglich den Beitrag der Ukrainer und anderer Völker im später entstandenen Zarenreich würdigt.
Während ukrainische Historiker seit einiger Zeit Staatsbildungsprozesse auf ukrainischem Territorium eingehend untersuchen, erblickt das Land in Putins Darstellung erst in der Sowjetzeit das Licht der Welt – und das nur aufgrund der Untaten der Bolschewiken, die mit ihrer Nationalitätenpolitik Russland „ausraubten“, wie Putin auffallend negativ festhält. Den Revolutionär Lenin, der den russischen Staat schwächte, lehnt er ab. „Die heutige Ukraine ist voll und ganz eine Schöpfung der Sowjet-Epoche“, gegründet auf dem „historischen Russland“.
Zweifel säen
Warum aber ist das alles relevant? Weil Putins Darstellung darauf zielt, die Eigenständigkeit der heutigen Ukraine anzuzweifeln. Erstens rüttelt der Kreml-Chef an den Grenzen des Landes, wenn er fordert, dass die Ukraine 1991 die Sowjetunion in dem Zustand verlassen hätte sollen, in dem sie 1922 der UdSSR beitrat – also ohne Krim und bestimmte westliche Landesteile. „Geht so, wie ihr gekommen seid“, schreibt er provokant – wohl wissend, dass Russland durch die Annexion der Krim 2014 sich „seinen“ Teil bereits geschnappt hat.
Zweitens dient der historische Exkurs zur Bekräftigung der These, dass die Ukraine heute angeblich ein Spielball westlicher Mächte sei. Diese würden mit der Kiewer Regierung ein geopolitisches Projekt namens „Anti-Russland“ vorantreiben, das die Ukraine künstlich von Russland trennen wolle. Neu sind diese Vorwürfe nicht, die rhetorische Verbissenheit erstaunt jedoch.
Putins Abhandlung bringt eine neue Härte gegenüber Kiew zum Ausdruck. Sie ist auch eine Abfuhr an die wiederholten Gesprächsaufrufe Wolodymyr Selenskijs in Richtung Kreml. Mit einem, der ihm zwangsläufig die Treue hält, traf sich Putin dafür am Dienstag in St. Petersburg: Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko. Er wird westlich von Russland auf längere Sicht der einzige Verbündete bleiben. Selenskij, gefragt zum Artikel, sagte nur, er müsse ihn erst lesen. Und fügte ironisch hinzu: Der Herr über dieses große Land sei zu „beneiden“, dass er so viel Zeit für historische Abhandlungen habe.
De Maart
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