Mittwoch5. November 2025

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Srebrenica30 Jahre nach Genozid an über 8.000 muslimischen Männern kümmert sich ein neues Altenheim um ihre betagten Mütter und Frauen

Srebrenica / 30 Jahre nach Genozid an über 8.000 muslimischen Männern kümmert sich ein neues Altenheim um ihre betagten Mütter und Frauen
In der Nähe der Angehörigen: Der Gedenkfriedhof von Poticari ist nur wenige Hundert Meter von dem neuen Altenheim für die Mütter von Srebrenica entfernt Foto: Thomas Roser

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Drei Jahrzehnte lang haben die Mütter von Srebrenica ihre Familien über Wasser gehalten – und um würdige Ruhestätten für ihre ermordeten Männer und Söhne gekämpft. Ein Altenheim müht sich liebevoll darum, den in die Jahre gekommenen Opfern des Genozids einen sicheren Lebensabend zu verschaffen.

Vögel zwitschern. Ein leichter Wind streicht über die endlosen Reihen der weißen Grabstelen auf dem Gedenkfriedhof von Poticari. Sie besuche das Grab ihres vor 30 Jahren ermordeten Mannes Zaim, so oft sie könne, berichtet in dem nur wenige Hundert Meter entfernten „Altenheim für die Mütter von Srebrenica“ die 78-jährige Hanifa Omerovic.

Ihr ältester Sohn habe bereits zu Beginn des Bosnienkriegs (1992-1995) sein Leben verloren und liege auf dem Stadtfriedhof begraben, erzählt die freundliche Witwe in ihrem blitzsauberen Zimmer. Die beiden anderen Söhne lebten in den USA und in Deutschland. Sie würden sie zwar so oft wie möglich besuchen, „aber haben ihr eigenes Leben, ihre eigenen Verpflichtungen“: „Zwei unter der Erde, zwei in der Welt – und mich haben sie nun hier untergebracht.“

Es fehle ihr in dem Heim an nichts, versichert die von ihrem entbehrungsreichen Leben gezeichnete Frau mit dem Kopftuch: „Es ist ein angenehmer Ort. Alle kümmern sich ständig um uns. Das Heim ist gut. Nur selbst geht es uns nicht mehr gut. Meine sieben Sinne habe ich zwar noch alle zusammen. Aber ich falle oft, habe Zucker – und Unmengen von Medikamenten nötig.“

„Im Heim sind die Mütter von Srebrenica nicht mehr allein“: Armin Majstorovic, Direktor des Seniorenheims
„Im Heim sind die Mütter von Srebrenica nicht mehr allein“: Armin Majstorovic, Direktor des Seniorenheims Foto: Thomas Roser

Über die Schirme flimmern die Aufnahmen von ausgemergelten Männern, die von ihren Peinigern selbst vor ihrer Hinrichtung noch verhöhnt und drangsaliert werden. Still betrachten Jugendliche in der zum „Memorial Center“ umfunktionierten Hauptquartier des früheren UN-Bataillon „Dutchbat“ in Poticari die Fotos und Filme, die von Europas schlimmsten Massaker nach dem Zweiten Weltkrieg künden: Nach der Einnahme der unter UN-Schutz stehenden Muslimenklave Srebrenica durch bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladic am 11.Juli 1995 wurden über 8.000 Männer, Greise und Jungen in Massenexekutionen ermordet – und in den umliegenden Wäldern verscharrt.

Von UN-Blauhelmen kampflos preisgegeben

Wie die Familie von Hanifa Omerovic hatten damals zehntausende von Flüchtlingen auf dem auf dem Gelände einer früheren Batteriefabrik gelegenen Dutchbat-Hauptquartier Schutz gesucht. Doch die UN-Blauhelme gaben die über zwei Jahre belagerte Enklave kampflos preis. Nur die Frauen und ihre Kinder durften Srebrenica in Buskonvois verlassen. Ihre Söhne, Brüder, Männer und Väter blieben zurück. „8372 …“ erinnert auf dem Gedenkfriedhof ein Gedenkstein an die bereits bestatteten oder noch vermissten Opfern, die beim Genozid von Srebrenica ihr Leben verloren.

30 Jahre liegen mittlerweile die Massenmorde zurück, die auch das Leben der überlebenden Angehörigen völlig aus der Bahn werfen sollten. Außer der Trauer über den Verlust ihrer Männer und Söhne hatten die meist auf sich allein gestellten Mütter als entwurzelte Flüchtlinge im In- und Ausland nicht nur mit der Sorge um ihre verbliebenen Kinder zu kämpfen.

Es waren die Mütter von Srebrenica, die jahrzehntelang mit Demonstrationen, Mahnwachen und Zeugenaussagen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal gegen das Vergessen und für die Verfolgung der verantwortlichen Kriegsverbrecher stritten – und die Schaffung des Gedenkfriedhofs in Poticari erzwangen. Oft hatten sie jahrelang darauf zu warten, bis zumindest ein Teil der Überreste ihrer Angehörigen aus den Massengräbern geborgen und per DNA-Abgleich identifiziert werden konnten.

Fürsorglich stützen Pflegerinnen die betagten Frauen, die langsam über den Hof des weißen Häuserkomplex des nach der Mütter-Aktivistin Hatidza Mehmedovic benannten Altersheims zum Gemeinschaftsraum des „bosnischen Saals“ humpeln. Drei Jahrzehnte lang haben die Mütter von Srebrenica sich und ihre Familien über Wasser gehalten. Doch die Jahre fordern ihren Tribut. Einige von ihnen sind bereits gestorben, andere haben nun selbst Hilfe nötig.

Die Idee für das im Mai 2023 eröffnete Pflegeheim für in die Region Srebrenica zurückgekehrte Mütter sei bereits 2016 entstanden, berichtet Direktor Armin Majstorovic. Freiwillige Helfer hätten bereits damals viele der heutigen Heimbewohnerinnen zu Hause betreut: „Srebrenica ist eine sehr weitläufige Kommune. Viele der Frauen lebten in abgelegenen Dörfern allein und ohne Angehörige. Das Schlimmste war für sie oft die Einsamkeit: Sobald sie das Haus nicht mehr allein verlassen konnten, sprachen und sahen sie bis auf die Helfer oft wochenlang niemand.“

„Das Heim ist gut. Nur selbst geht es uns nicht mehr gut.“ Die Witwe Hanifa Omerovic (78) hat ihren Mann und Sohn im Bosnienkrieg verloren.
„Das Heim ist gut. Nur selbst geht es uns nicht mehr gut.“ Die Witwe Hanifa Omerovic (78) hat ihren Mann und Sohn im Bosnienkrieg verloren. Foto: Thomas Roser

Mit Unterstützung der niederländischen Pronk-Stiftung sowie staatlichen und privaten Hilfsgeldern realisierte die in Srebrenica stark engagierte Emmaus-Bewegung die Pläne für ein Altenheim, das in erster Linie die Mütter in der Region gedacht ist, die nicht mehr selbstständig leben können. Von den 118 Plätzen des Zentrums seien mittlerweile 39 belegt „und es werden immer mehr“, so Majstorovic: „Viele Mütter, die in den letzten Jahrzehnten in anderen Landesteilen lebten, wollen ihre alten Tage nicht nur in ihrer früheren Heimat, sondern vor allem in der Nähe der Gräber ihrer Angehörigen verbringen.“

Obwohl Ajkuna Huseinovic drei ihrer fünf Söhne durch den Genozid verlor und ein weiterer nach dem Krieg im niederländischen Exil an den Folgen des erlebten Traumas verstarb, hatte die 87-Jährige aus dem Drina-Dorf Lijesce noch Glück im Unglück. Ihr Mann Nezir sitzt im Seniorenheim noch heute neben ihr auf dem Sofa: Der Landwirt war bereits vor dem Fall von Srebrenica ins sichere Modrica und später in die Niederlande geflüchtet – und ist heute der einzige männliche Bewohner des Pflegeheims.

Wir hatten bis zum Krieg ein gutes Leben

Nezir Huseinovic

„Wir hatten bis zum Krieg ein gutes Leben, fünf Söhne, fünf Häuser, drei Traktoren, zwei Autos. Aber alle unsere Besitztümer wurden niedergebrannt und zerstört“, erzählt der 86-Jährige. Dem erlebten „Kriegstrauma“ folgte eine zermürbende Odyssee, die das Ehepaar erst elf Jahre lang in die Niederlande, dann in verschiedene Städte Bosniens verschlug.

„Uns fehlte unser Dorf, uns fehlte Srebrenica“, erinnert sich Nezir an seine Flüchtlingsjahre. Zwar wagte er mit Ajkuna 2018 noch einmal in Lijesce einen Neuanfang als Rückkehrer. Doch der sich verschlechternder Gesundheitszustand der Eheleute forderte bald seinen Zoll: „Wir waren dort allein, konnten nicht mehr selbstständig leben. Hier haben wir es schön, leben wir in der Nähe der Gräber unserer Söhne – und wird für uns gesorgt.“

„Wir wollen in der Nähe der Gräber unserer Söhne sein“: Die Eheleute Nezir (87) und Ajkuna Huseinovic (86) verloren drei ihrer fünf Söhne beim Völkermord von Srebrenica
„Wir wollen in der Nähe der Gräber unserer Söhne sein“: Die Eheleute Nezir (87) und Ajkuna Huseinovic (86) verloren drei ihrer fünf Söhne beim Völkermord von Srebrenica Foto: Thomas Roser

Tränen treten Ajkuna in die Augen, wenn sie sich an ihre ermordeten Söhne Aziz, Esad und Mirsad erinnert. Leichter fällt es ihr, über den Alltag in ihrem neuen Heim zu sprechen. Von der Reinigungskraft bis zu den Pflegern und den Ärzten seien alle Mitarbeiter „sehr gut und sehr freundlich“: „Auch die Gesellschaft mit den anderen Heimbewohnern tut uns gut. Es fehlt uns hier nichts.“

Ein Arzt, ein Psychologe, 16 festangestellte und zahlreiche freiwillige Mitarbeiter würden sich „rund um die Uhr“ um ihre Schützlinge kümmern, berichtet Majstorovic. Außer von den einmal pro Woche aus Tuzla anreisenden Fachärzten würden die Heimbewohnerinnen auch regelmäßig von Schülern oder bekannten Persönlichkeiten besucht: „Hier finden sie Gehör und haben den Kontakt mit Schicksalsgenossen, der ihnen früher oft fehlte.“

Der Standard der geleisteten Dienste würde sich eher an dem eines westeuropäischen als an dem eines bosnischen Seniorenheims orientieren, sagt Majstorovic beim Abschied: „Hier wird gut für die Mütter von Srebrenica gesorgt. Denn das haben sie sich nach ihrem schweren Leben auch verdient.“