Kaum hat 2022 begonnen und man sich ein (hoffentlich besseres) neues Jahr gewünscht, steht die nächste Desillusion vor der Tür: Die Zahlen steigen wieder, im Wochenrhythmus werden neue Infektionsrekorde angekündigt, die WHO warnt bereits vor der nächsten Variante, kurzum: Man fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis die Notbremse gezogen wird und ein neues Maßnahmenpaket mitsamt Lockdown oder allgemeiner Sperrstunde kommt. Falls es dann wirklich wieder so weit kommen sollte, gibt es immerhin einen (schwachen) Trost: 2022 kündigt sich zumindest musikalisch eher spannend an. Weil es hier nicht darum gehen soll, eine ausführlichen Ausblick zu geben, der entweder den Rahmen des Artikels sprengen oder eine ellenlange Auflistung von Musiker- und Bandnamen darstellen würde, hat das Tageblatt eine (subjektive) Liste potenzial interessanter Veröffentlichungen zusammengestellt.
British Sea Power pflegen seit jeher einen satirischen, selbstreferenziellen Umgang mit der eigenen, im Bandnamen beinhalteten Nationalität – die erste Platte hieß „The Decline of Brisith Sea Power“ (2003) und auf der Single „Waving Flags“ besang die Band mit Ironie die britische Immigrationspolitik („Are you of legal drinking age? On minimum wage? Welcome in“). Weil selbst Persiflage im heutigen Großbritannien nicht mehr tragbar ist, heißt die Band ab nun nur noch Sea Power (!) und veröffentlicht am 18. Februar ihre neue Platte „Everything Was Forever“. Sollte die Platte auch nur annähernd so gut sein wie die vier bereits vorab veröffentlichten Singles – das hymnische „Two Fingers“, der Pet-Shop-Boys-Synthiepop von „Folly“, der elegische Shoegaze-Postrock von „Lakeland Echo“ und das (indie-)rockige „Green Goddess“ – hat Sea Power unter dem Protest des neuen Namens ihr bestes Album geschrieben.

Apropos Shoegaze: Genregröße Beach House veröffentlicht zeitgleich zu Sea Power und vier Jahre nach „7“ ein neues, umfangreiches Album, „Once, Twice Melody“, das in vier Kapiteln und 18 (!) Songs aufgeteilt ist und somit sowohl eine zeitgenössische Veröffentlichungspolitik verfolgt, die verlangt, dass man neues Material nicht mehr mit einem einzigen Release verpulvert, sondern mithilfe von regelmäßigen Veröffentlichungen über Monate im Gespräch bleibt, als auch dem Bedürfnis nach Struktur eines Albums huldigt. Die Platte, die Beach House zum ersten Mal selbst produziert hat, wurde mit Streichorchester aufgenommen und klingt, urteilt man nach den zwei bereits veröffentlichten Kapiteln (und acht Songs), wie eine Beach-House-Platte nun eben klingt: Verträumt, sphärisch, leicht psychedelisch. Das ist, trotz einiger Neuerungen – die Songs sind eben leicht orchestraler – nicht wahnsinnig innovativ, dafür aber verdammt schön.

Nicht weniger megalomanisch: Nach den Festivitäten um den 25. Geburtstag kündigte das britische Kollektiv Archive ihr ambitioniertes Projekt „Call to Arms & Angels“ (8. April) an. Die Platte soll 17 Songs umfassen und fast zwei Stunden dauern. Vorab veröffentlicht wurden das fast 15-minütige, progressive, abenteuerliche und geniale „Daytime Coma“ sowie die okaye Ballade „Shouting Within“. Weil das alles nicht ausreicht, soll der Dokumentarfilm „Super 8“ die Entstehungsgeschichte des Albums erzählen. Zu diesem Dokumentarfilm wird es eine weitere instrumentale Begleitplatte geben, von der das bisher veröffentlichte „Super 8“ eine Kostprobe darstellt, die bereits Lust auf mehr macht.

Placebos neues Album – ihr erstes in neun Jahren – heißt wie ein Roman von Kazuo Ishiguro, erscheint am 25. März, scheint, wenn man dem Cover Glauben schenkt, Umweltverschmutzung und Digitalisierung zu thematisieren und pendelt, so lassen es die beiden bereits veröffentlichten Singles zumindest vermuten, zwischen ungenierter 90s-Nostalgia („Beautiful James“) und Mut zu etwas mehr Experimentierfreudigkeit („Surrounded By Spies“). Wir hoffen, das Endresultat setzt verstärkt auf Letzteren.

Nach dem grandiosen, wegweisenden und zeitlosen „Silent Alarm“ (2005) und dem Konzeptalbum „A Weekend in the City“ (2007), das insgesamt recht gut war, verlor Bloc Party die Orientierung, verzettelte sich in blutarmen Platten und wurde mit dem Weggang von Schlagzeuger Matt Tong und Bassist Gordon Moakes immer mehr zu einer blassen Kopie seiner selbst. Auf „Alpha Games“ (erscheint am 29. April) sind Kele Okereke und Gitarrist Russell Lissack, wie bereits auf der Vorgängerplatte „Hymns“, die einzigen verbliebenen Gründungsmitglieder, die erste Single „Traps“ klingt aber erfrischend knackig und zielstrebig. Stichwort erfrischend und knackig: Jack White veröffentlicht dieses Jahr gleich zwei Alben – „Fear of the Dawn“ (im April) und „Entering Heaven Alive“ (im Juni). Die erste Single klingt (fast) so, als hätte es das experimentelle „Boarding House Reach“ (2018) nie gegeben – und sich die White Stripes nie aufgelöst.

Am 11. Februar erscheinen „Dragon New Warm Mountain I Believe In You“ von Big Thief, das mit 20 Songs das längste Album der Band um Adrienne Lenker ist und dessen sieben vorab veröffentlichte Tracks zwischen klassischem Indie-Folk und vertrackteren, experimentierfreudigeren Nummern pendeln, sowie die neue alt-J-Platte „The Dream“, die nach dem etwas sperrigen, experimentelleren Vorgänger wieder organischere, poppigere („Hard Drive Gold“) und folkigere („Get Better“) Töne anzuschlagen scheint.

Mit Spannung erwartet werden zudem die neue Platte des jungen experimentellen Syntie-Pop-Duos Let’s Eat Grandma („Two Ribbons“, erscheint am 8. April) sowie das erste Album von The Smile, einem Postpunk-Projekt, an dem Radiohead-Sänger Thom Yorke und Radiohead-Gitarrist Johnny Greenwood seit einiger Zeit werkeln. Das an diesem Mittwoch veröffentlichte „You Will Never Work in Television Again“ dürfte dem Zuhörer eine kleine Idee geben, wie Radiohead geklungen hätte, wenn die Band nach „The Bends“ (1995) nicht mit Artpop und Elektropop herumexperimentiert, sondern dringlichen, aber unkomplizierten Postpunk geschrieben hätte.
Aus dem Nu-Metal und Hardcorelager melden sich zudem Korn („Requiem“, erscheint am 4. Februar, auf der Single „Start the Healing“ verbindet die Band Nu-Metal mit Pop-Appeal) und Underoath zurück: „Voyeurist“ wird am 14. Januar veröffentlicht und klingt wie ein episches Hardcore-Album mit Nu-Metal-Einflüssen und Pop-Appeal – bei „Numb“ ist nicht nur der Songname eine Linkin-Park-Referenz. (Jeff Schinker)
De Maart
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