HintergrundErniedrigen von Kindesbeinen an – Gewalt ist tief in der russischen Gesellschaft verankert

Hintergrund / Erniedrigen von Kindesbeinen an – Gewalt ist tief in der russischen Gesellschaft verankert
Zynische Haltung: Der russische Präsident Wladimir Putin hat Gewalt zum Prinzip seiner Politik gemacht Foto: dpa/Dmitry Azarov

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Die Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine entsetzen auch manche russische Bürger. Gewalt ist jedoch tief in der Struktur der russischen Gesellschaft verankert.

Ein Spielplatz irgendwo im Zentrum Moskaus. Die Kinder rennen umher, die Kinder lachen, die Kinder versuchen sich an Klettergerüsten. „Komm da runter, habe ich dir gesagt, du Nichtsnutz!“, schreit eine Mutter ihren Sohn an. „Hör’ sofort auf zu brüllen, sonst kommt der Polizist und holt dich, du Drecksau“, sagt ein Vater zu seiner Dreijährigen, die sich auf den Standpunkt stellt, den Spielplatz nicht verlassen zu wollen und das mit lautem Weinen bekundet. Plötzlich rennt eine Mutter hinter einem Jungen her, wirft ihn zu Boden, stellt sich über ihn, hebt den Finger und ereifert sich: „Du machst das nicht noch mal, du Dummkopf. Du hast mein Kind angerempelt.“ Lediglich zwei Erwachsene erheben ihre Stimme für den Jungen am Boden. Die anderen schauen weg, manche bekräftigen die Frau: „Wenn man den Gören alles erlaubt und alles durchgehen lässt, werden sie nie Ruhe geben. Das darf man nicht zulassen.“

Es sind Szenen des russischen Alltags. Szenen, die sinnbildlich sind für eine Gesellschaft, die Gewalt von Kindesbeinen an erfährt und sie ausübt, als banale Realität, die oft gar nicht in Frage gestellt wird. Und wenn doch, so wird das Hinterfragen, wird der Zweifel von der Umgebung meist als Schwäche ausgelegt, als „Gift aus dem Westen“.

Abgehärtet für das Leben

Kinder gehörten abgehärtet für das Leben, sagen die Menschen sich und all den anderen. Abhärtung bedeutet das Hinnehmen von Demütigungen, bedeutet, sich zu fügen und zu gehorchen. Die Angst vor Strafe – das Wort für „Bestrafung“ kennen schon die Kleinsten – ist groß. So lernen bereits Kinder, „gut“ und „brav“ zu sein, bloß nicht aufzufallen. „Querulanten“ sind nicht geschätzt in der Gesellschaft, die auf Hierarchie und Unterordnung aufgebaut ist.

Die Erfahrung, mit seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht wahrgenommen zu werden, oft über Jahrzehnte hinweg, die erlernte Hilflosigkeit, die auch Aggression gebiert, wird über Generationen weitergegeben. Die Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine, die auch in Russland bei vielen für unfassbares Entsetzen sorgen, sind Teil der Norm russischer Gewaltapparate. Einer verinnerlichten Gewalt, die sich praktisch durch alle Bereiche des Lebens zieht. Sie äußert sich in Sprache und auch als Tat. Sie ist ein Machtprinzip und bleibt oft unbestraft.

Lehrer demütigen ihre Schüler, um zu zeigen, wer der Stärkere ist. Beschweren sich die Eltern, drohen Direktoren mit dem Einschalten der Fürsorge-Organe. Aus Angst ziehen sich die Eltern meist zurück und beruhigen sich damit, dass es in ihrer Schulzeit nicht anders gewesen sei. Im Umgang mit Schwächeren der Gesellschaft spielt Gewalt eine noch offensichtlichere Rolle. Kinderheime, in denen oft soziale Waisen leben, Kinder also mit noch lebenden Verwandten, sind mehrheitlich am Stadtrand zu finden, hinter Toren, die für Außenstehende – und seien es Schulfreunde dieser Kinder – nicht leicht zu passieren sind. Das kasernenhafte Leben, in dem „Unartigkeiten“ auch schon mal mit dem Einweisen in psychiatrische Krankenhäuser bestraft werden, vermittelt bereits Kleinstkindern eine Welt, in der es mit allen Mitteln ums Überleben geht. Und Überleben funktioniert nur durch den Einsatz von Gewalt, davon sind die Menschen überzeugt. „Du musst dich wehren, zuhauen“, bringen viele Eltern im Land ihren Kindern bei.

Gewalt wird zur Norm – und zum Tabu

Gewalt wird zur Norm – und zum Tabu. Auch unter Paaren und in Familien. Den Satz „Wenn er schlägt, dann liebt er“ aus einem mittelalterlichen Gesetzeskodex und das daraus folgende Verhalten nehmen auch heutzutage viele Russen als Normalität in einer Beziehung hin. Verlässliche Zahlen zur häuslichen Gewalt gibt es nicht. Laut Umfragen hat mindestens ein Fünftel der russischen Frauen Gewalt durch den Partner erlebt. Vergewaltigung in der Ehe sehen viele als das Einlösen „ehelicher Pflicht“ an, nicht als Straftat. Ohnehin ist „häusliche Gewalt“ in russischen Gesetzen nicht definiert. Der russische Staat hält dies nicht für notwendig. Es gebe ja viele andere Gesetze, „ein Gesetz gegen Hooliganismus zum Beispiel“, hatte Russlands Präsident Wladimir Putin 2019 gesagt. Geändert hat sich an der zynischen Haltung seitdem nichts.

„Häusliche Gewalt“ gilt in Russland als Bagatelle und wird mit einem Bußgeld von umgerechnet 50 Euro geahndet. Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Russland vor einigen Jahren dazu aufforderte, Frauen besser vor häuslicher Gewalt zu schützen, bezeichnete das russische Justizministerium „das Problem“ als „deutlich übertrieben“ und sah die Forderung der Straßburger Richter als „Diskriminierung von Männern“ an.

Diese Aussagen zeigen die grundlegende Haltung des russischen Staates zur Gewalt in Familien. Weil die Gesetzeslage so unklar ist, wissen selbst Polizisten oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Auch so mancher Richter weist Klagen gegen schlagende Ehemänner, Väter und Partner mit dem lapidaren Satz ab: „Für die Klägerin hat Gewalt System-Charakter, sie müsste ja dran gewöhnt sein.“

Rekruten unterwerfen sich älteren Soldaten

Letztlich ist die gesamte Gesellschaft an Gewalt „gewöhnt“. Jede Demonstration, vor allem, wenn sich die Menschen dabei in ihren Forderungen gegen die Regierung richten, ist von Polizeigewalt durchsetzt. Die brachial auftretenden OMON-Sonderpolizisten prügeln auch auf Minderjährige mit ihren Schlagstöcken ein und schleifen bereits Blutende in die Polizeitransporte. Gerichte verurteilen danach die Demonstranten, weil sie angeblich Polizisten angegriffen hätten.

In der Armee unterwerfen sich Rekruten älteren Soldaten. Das Russische hat einen Begriff dafür: „Dedowschtschina“. Die sogenannte „Herrschaft der Großväter“ ist ein noch aus der Zarenzeit übriggebliebener Initiationsritus der russischen Streitkräfte und bezeichnet die systematische Misshandlung von Soldaten. Häufig konfiszieren die Dienstälteren – „Dedy“ genannt, die Großväter – den privaten Besitz der Dienstjüngeren – „Duchi“, Geister. Sie nehmen sich ihre Essensrationen, manchmal auch den Sold. Sie missbrauchen sie als Arbeitssklaven, verleihen sie gegen Geld als Fremdarbeiter an Firmen. Sie prügeln und vergewaltigen.

Die Wehrreform reduzierte die „Dedowschtschina“, weg ist sie dennoch nicht. Der Hackordnung innerhalb der Armee, eines traditionell geschlossenen Raums, halten viele Wehrdienstleistende nicht stand. Manche töten andere, manche sich selbst. Der Kreml bezeichnet solche „Zwischenfälle“ stets als „Privatsache eines Einzelnen“.

Ehrentitel für massenhafte Tötungen

Die Mechanismen finden sich auch im russischen Gefängniswesen wieder. Gelangen Aufnahmen von systematischer Folter in den Strafkolonien des Landes an die Öffentlichkeit, zucken viele in Russland mit den Schultern. „Ist ja schließlich Knast“, sagen sie dann und wollen sich mit dem Ausmaß der Missstände nicht beschäftigen. Die Traditionen in der „Zone“, wie die Haft in Russland genannt wird, stammen ebenfalls noch aus der Zarenzeit. Im Stalinismus wurden die Methoden der Entmenschlichung geradezu perfektioniert. Bis heute stützt sich das russische Straflagersystem – streng hierarchisch und militärisch organisiert – auf den Gulag, manche Lager aus dieser Zeit werden immer noch als Strafkolonien genutzt. Es sind geschlossene Systeme, in denen es um Bestrafung, nicht um die Beschäftigung mit dem Verbrechen geht.

In der Ukraine zeigt sich, wie der russische Staat Gewalt fördert und gar rühmt: Jener Infanteriebrigade, der Kiew Kriegsverbrechen und massenhafte Tötungen in der Stadt Butscha vorwirft, verlieh Putin für „Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut“ den Ehrentitel einer „Garde“. Die russische Gesellschaft lebt so weiter in der Straflosigkeit der Gewalt, weil ihr Präsident Gewalt zum Prinzip seiner Politik gemacht hat.

DanV
8. Juli 2022 - 12.38

@ LX Wann ee beschreiwt, wat allgemenge Konsens an enger Gesellschaft ass, ass dat keen Opruff zum Haass. Et ass einfach eng Constatioun.

LX
7. Juli 2022 - 17.38

Wei kennt et dat een sou eppes allgemengt iwwer Russen kann soen an wou Leit (wei Terror Attacken waren virun eng Rei Joeren) gesoot hunn dat d'Araber gewaltäteg waren do kruuten sie Opruff zum Haas viirgeworf. Bitte erklärt mir dei zweearlee Moossen. Merci

jeff
7. Juli 2022 - 7.38

@DanV - Dat mat der Häuslechergewalt ass sécherlech e grousse Problem, an dass et e Gesetz gëtt, wou een säin Ehepartner zerfachen kann, ass méi wéi Pervers - mä dat ass jo awer wuel kaum nëmmen e Russescht Problem. Kuckt einfach nëmmen ons Statistiken un. 

DanV
6. Juli 2022 - 13.15

@ Jeff, Net d'Kanner si voller Gewalt, si ducken sech éischter, bis dass se staark genuch sinn, sech ze wieren. Kanner erliewe vill Gewalt a ginn dozou erzunn, als Erwuessener Gewalt ze gebrauchen statt Iwerleeung. A Russland ass et besser, fir d'éischt ze schloen an dann eréischt ze froen - als Mann. Als Fra kuckt ee besser, fir séier fort ze kommen, wann een aggressiv ugekuckt gëtt. Esou ass et eis vun enger Moskauer Prof gerode ginn, deemols op der Uni. Deen Artikel bestätegt dat, wat ech virun 30 Joer geléiert hunn. Krass, dass dat sech net geännert huet. Mol eng Kéier kann een dem Putin d'Schold net ginn, hee kennt et net anecht.

JJ
6. Juli 2022 - 9.00

" Putin hat Gewalt zum Prinzip seiner Politik gemacht." ...So wie seine Genossen im Geiste aus China,Nordkorea,Syrien,Belarus usw. Aber ein Psychiater würde ihn für unschuldig erklären ist er doch selbst Opfer der KGB-Doktrin aus Sowjetzeiten. Und das Volk senkt den Kopf und spricht von " Väterchen Russland" wenn ihnen mal wieder alles genommen wurde was sie aufgebaut hatten. Man stelle sich einmal vor morgen würden eine Milliarde Chinesen die Arbeit niederlegen. Ein Ameisenvolk funktioniert nur weil ALLE mitmachen.Als Schwarm sind sie unschlagbar,aber einzeln jederzeit ersetzbar. Auch die Religionen funktionieren auf diese Weise. Angst ist ein strenger Lehrer.Putins Freund ,der Pope Kyrill, wird das bestätigen.

Robert Hottua
6. Juli 2022 - 8.22

Bei der Armee war ich nicht, darüber kann ich also nichts sagen. Ansonsten trifft alles, was Frau HARTWICH anspricht, auch auf meine Erfahrungen im luxemburgischen Rechtsstaat zu. Meine Eltern wurden ab 1933 zu einer straflosen, bestialischen, transgenerationellen Gewalt erzogen. Nationalsozialismus, Eugenismus und Schwarze Pädagogik müssen in Luxemburg von einer internationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission präventiv aufgearbeitet werden. MfG Robert Hottua

jeff
6. Juli 2022 - 7.30

Also ech weess jo net wou déi Madamm sech do erëm dréift, mä ech, ech hunn esou Saachen nach ni op enger Spillplaz dohannen héieren, an ech ginn reegelméisseg säit iwwer 20 Joer a Russland. Kanner Sinn a Russland net méi Aggressiv wéi hei zu Lëtzebuerg. Madamm sollt Hiert Ëmfeld iwwerdenken