CoronaRussischer Duma-Abgeordneter zweifelt an offiziellen Zahlen

Corona / Russischer Duma-Abgeordneter zweifelt an offiziellen Zahlen
Die meisten Menschen tragen in der Moskauer Metro eine Maske Foto: AFP/Natalia Kolesnikowa

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

In offiziellen Berichten wird die Covid-19-Sterblichkeitsrate offenbar auf ein Drittel reduziert. Demnach habe es in diesem Herbst 20.000 Corona-Tote gegeben. In Wahrheit müssten es mindestens 60.000 sein, meint ein Duma-Abgeordneter.

Offizielle Regierungssprecher werden nicht müde, zu wiederholen, man habe alles im Griff. Das hat vor allem Präsident Wladimir Putin versichert: „Insgesamt haben wir es geschafft“, sagte er am vergangenen Mittwoch. Es sei ein zweiter Impfstoff registriert worden, verriet er mit bescheidenem Stolz. Das bestätigte die zuständige Vizeregierungschefin Tatjana Golikowa. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus, zumal in den russischen Randgebieten.

Die gefürchtete zweite Welle der Corona-Pandemie sei in Russland angekommen, sagte der liberale Duma-Abgeordnete aus der Altai-Region, Wladimir Ryschkow, in einem Interview des kritischen Senders Radio Echo Moskaus. „Meine These ist einfach: Die erste Welle war im vergangenen Frühjahr. Damals waren die Einschätzungen und das Vorgehen der Behörden relativ angemessen. Sie passten auch in das Gesamtbild der europäischen Statistiken. Überall war es einigermaßen gleich. Jene erste Welle wurde damals niedergekämpft.“ Den russischen Sommerstatistiken könne man dagegen nicht trauen, weil sie der Abstimmung über Putins Verfassungsänderungen angepasst worden seien, behauptete Wladimir Ryschkow weiter.

„Wir haben bereits erwähnt, dass die Gesamtsterblichkeitszahlen in diesem Jahr um 100.000 höher liegen als im Vorjahr. Bei den Covid-19-Toten unterscheiden sich die wirklichen Zahlen von den offiziellen um das Fünffache. Wir wollen aber großzügigerweise von einer dreifachen „Korrektur“ ausgehen. Wenn es also heißt, es gebe 20.000 Corona-Tote, dann sind es tatsächlich mindestens 60.000“, fuhr der Duma-Abgeordnete fort.

Der Abgeordnete hat auch auf seiner Facebook-Seite den Text einer Journalistin aus der Altairegion veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem: „Notärztliche Ambulanzen, die nach wenigen Minuten da sein müssten, brauchen mehrere Tage, selbst um bei Kranken anzukommen, die hohes Fieber haben und wirklich Corona-krank sind. Es gibt nicht genug Fahrzeuge und notärztliche Mannschaften. Eine Computertomografie ist nur nach zwei Wochen Voranmeldung möglich. Riesige Warteschlangen werden aus normalen Polikliniken beim praktischen Arzt gemeldet. Kranke und Genesende müssen sich zusammen am Schalter anstellen. Es gibt nicht genug Covid-Tests. Arzneimittel reichen nicht aus.“

„Empfehlungen“ statt Hilfe

Briefe aus acht weiteren Regionen, darunter aus Udmurtien, Nowosibirsk und anderen Orten, zeichnen ein ähnliches Bild. Bei Covid-Verdacht kommt kein Arzt zum Hausbesuch. In Novosibirsk musste eine Frau fünf Tage lang auf den Notarzt warten.

Nur die wenigsten Beamten, wie der Moskauer Oberbürgermeister Sergej Sobjanin, trauen sich, dem Kreml zu widersprechen und die Wahrheit zu sagen. Die übergeordneten Stellen verlangen von den lokalen Behörden aber, „wirksame Maßnahmen“ zu ergreifen. Deshalb empfehlen die Gouverneure, „verstärkt“ Gesichtsmasken und Handschuhe zu tragen sowie den vorgeschriebenen Abstand einzuhalten. In Russland werden aber Empfehlungen nie als Pflicht empfunden. Nur die Befehle werden ernst genommen.

Offenbar ist die gefürchtete zweite Welle der Corona-Epidemie nun doch in Russland angekommen. Dagegen hilft keine Selbsttäuschung. Helfen können vielmehr außerordentliche Maßnahmen, vor allem dringende Unterstützung für ärmere Regionen, die aus eigener Kraft damit nicht fertig werden. Schließlich muss den Menschen ein Impfstoff angeboten werden, von dem sie wirklich glauben, dass es gegen das Virus hilft. In die beiden ersten Präparate, die Putin anpreist, haben sie kein Vertrauen.