RetroWie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (1/8)

Retro / Wie Andy Schleck die Tour 2010 gewann (1/8)
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Vor zehn Jahren beendete Andy Schleck die Tour de France hinter Alberto Contador auf dem zweiten Platz, wurde aber am 6. Februar 2012 wegen einer positiven Dopingprobe des Spaniers zum Sieger erklärt. Das „Maillot jaune“ bekam er am 29. Mai 2012 im Mondorfer Casino übergestreift. In einer achtteiligen Folge erzählt Petz Lahure, wie es zu dem historischen fünften Luxemburger Tour-Erfolg kam. Heute (1/8): So waren damals die Voraussetzungen.

Die Tour 2010 startete am 3. Juli (also heute vor zehn Jahren) und führte über 3.641 km. Auf dem Programm standen der Prolog in Rotterdam und 20 Etappen. Diese waren eingeteilt in neun Flachetappen, sechs Bergetappen, vier mittelschwere Etappen und ein Einzelzeitfahren über 51 km. Insgesamt mussten die Fahrer 25 Berge der zweiten, der ersten und der „Hors“-Kategorie erklettern. Auf einer Etappe (Wanze-Arenberg) machten sie Bekanntschaft mit sieben Sektoren (13,2 km) Kopfsteinpflaster.

Zweimal Tourmalet

Die Tour führte durch drei Länder (Holland, Belgien, Frankreich). Elf Städte organisierten zum ersten Mal eine Etappenankunft. Ruhetage waren eingeplant am Montag, den 12. Juli in Morzine und am Mittwoch, den 21. Juli in Pau.

Vor dem Start in Rotterdam waren die Fachleute sich einig, dass die Tour in der Schlusswoche in den Pyrenäen entschieden würde. Aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der „Entdeckung“ dieser Gebirgskette durch unseren Landsmann Alphonse Steinès sollte es gleich zweimal den Tourmalet hinaufgehen.
Zum ersten Mal am Dienstag, 20. Juli, auf der Etappe Bagnères-de-Luchon – Pau und dann zwei Tage später (Donnerstag, 22. Juli) von Pau auf den Gipfel des 2.115 m hohen Bergriesen. „Wer hier das ’Maillot jaune’ trägt, dürfte das Schlimmste hinter sich haben“, war der allgemeine Tenor. Ein Umschwung wäre dann nur noch beim letzten großen Test gegen die Zeit, der am zweitletzten Tag zwischen Bordeaux und Pauillac bevorstand, möglich.

Contador die Nr. 1

Tour-Favorit Nummer eins war Alberto Contador, der die Rundfahrt schon 2007 und 2009 gewonnen hatte. Seine Vorbereitung schloss der damals 27-jährige Spanier (geb. am 6.12.1982 in Madrid) im Dauphiné Libéré ab, wo er zwei Etappen gewann.

Contador, der als bester Bergsteiger und starker Zeitfahrer galt, holte 2010 je eine Etappe und den Gesamtsieg bei der Algarve-Rundfahrt, Paris-Nice und der Kastilien-Tour. Er war in den Wochen vor der Tour oft in den Pyrenäen und den Alpen anzutreffen, wo er (genau wie übrigens die Gebrüder Schleck) mit seiner Mannschaft die strategischen Stellen der Tour in Augenschein nahm.

„Mir als Bergspezialist passt das Terrain“, ließ Contador im Vorfeld ausrichten. Geschickt aber schraubte er danach die Erwartungshaltung wieder runter. „Es gibt nichts Schwierigeres als ein Rennen als Favorit zu gewinnen. Du weißt, dass jeder Moment der Schwäche von deinen Konkurrenten ausgenutzt wird“, erklärte der Spanier auf der Pressekonferenz seines Astana-Teams.

„Wer schon Zweiter war …“

Neben Contador galt Andy Schleck als heißester Anwärter auf den Gesamtsieg. „Andy wird die Tour de France einmal gewinnen, fragt sich nur, in welchem Jahr“, schrieb das Tageblatt bereits in seiner Vorschau auf die Rundfahrt 2009.
Mit 25 Jahren schien der jüngere der Gebrüder Schleck (geb. am 10.6.1985) seinen Reifeprozess abgeschlossen zu haben. Er fühlte sich in viel besserer Form als vor der Tour 2009, obwohl er im Gegensatz zu Alberto Contador außer dem Meistertitel im Zeitfahren keinen Erfolg im Jahr 2010 feiern konnte.
Nach den Frühjahrsklassikern mit für ihn mittelmäßigen Ergebnissen hatte er die Tour de France fest im Visier. „Ich bin nicht hier, um gegen Contador zu kämpfen, sondern um die Tour zu gewinnen“, betonte er bei der Pressekonferenz des Saxo-Bank-Teams noch einmal ganz deutlich. „Wer schon Zweiter war, muss höhere Ziele anpeilen.“
Um sich seinen Traum zu erfüllen, sollte Andy spätestens nach der Ankunft auf dem Tourmalet (Donnerstag, 22. Juli) im „Maillot jaune“ sein … und rund drei Minuten Vorsprung auf Contador haben, meinten wir damals. Das wäre ein ausreichendes Polster, um nicht im 51-km-Zeitfahren von Bordeaux nach Pauillac in Gefahr zu geraten.

Reif fürs Podium

Neben Andy Schleck hatte auch sein Bruder Frank das Zeug zu einem Tour-Sieger. Die Saxo-Bank-Mannschaft startete also mit zwei Fahrern, von denen einer drei Wochen später in Gelb gekleidet aufs Podium steigen könnte. Die „Doppelspitze“ war durchaus imstande, für ein Novum in der Tour-Geschichte zu sorgen. Bis dahin schafften es noch nie zwei Brüder, zusammen in Paris auf dem Treppchen zu stehen.
Frank Schleck war in Form, vielleicht sogar zu früh. Er gewann eine Etappe der Tour de Luxembourg und wurde Gesamtzweiter. Rund zwei Wochen später überraschte er sich selbst beim Zeitfahren der Tour de Suisse und schrieb seinen Namen als erster Luxemburger ins „Palmarès“ der viertgrößten Rundfahrt der Welt.
Zwei Etappen hatte Frank Schleck bei der Tour de France bereits gewonnen. Zweimal auch war er am Schluss Fünfter. Er schien also reif zu sein für einen Podiumsplatz.

Ohne Andersen

Sowohl für Frank als auch für Andy konnte der Weg zum Erfolg nur über den Angriff führen. Im Raum stand allerdings die Frage, ob die Saxo-Bank-Mannschaft nicht etwa durch die Entlassung ihres Sportlichen Leiters Kim Andersen geschwächt wäre.

Dieser bastelte zusammen mit den Schlecks und ohne Wissen seines Teamchefs Bjarne Riis seit Monaten an einem neuen, von Unternehmer Flavio Becca gesponserten, Luxemburger Team, bei dem Andersen die sportliche Leitung übernehmen sollte und Brian Nygaard, der bei Riis bis 2009 Kommunikationschef war, die organisatorische. Hier war etwas passiert, was eigentlich vor dem wichtigsten sportlichen Anlass des Jahres in einer Mannschaft nicht passieren darf.

Daraufhin wurden Bradley McGee und Torsten Schmidt von Riis mit dem Amt von Andersen beauftragt, der seit Jahren beruflich wie privat als engster Vertrauter der Gebrüder Schleck die Zügel fest in der Hand hielt. Im Rennen „spürten“ die Schlecks Andersen am Hinterrad, er war bei allen Erfolgen die lenkende Hand im Mannschaftswagen. An McGee und Schmidt mussten die Schlecks sich erst einmal gewöhnen.
Manager Bjarne Riis fühlte sich zwar gelinkt, doch machte er gute Miene zum bösen Spiel. Er biss die Zähne zusammen, hielt die Faust in der Tasche und schloss einen Burgfrieden mit denen, die auch ihn von einem Tour-Sieg profitieren lassen könnten. Wenn es dem Team gelingen sollte, sich ausschließlich auf das Sportliche zu konzentrieren und mentale Stärke aufzubauen, wäre alles möglich.

„Die Hölle …“

Dass die Moral gut war, wurde bei der Pressekonferenz zwei Tage vor dem Start deutlich. Saxo-Bank trat nach außen hin als verschworenes Team auf. Fabian Cancellara, der 2009 beim Auftakt in Monaco gewonnen hatte, galt als Favorit auf den Prologsieg. Er wollte seine Mannschaft in die Erfolgsspur führen.
Saxo-Bank versprach all den anderen Teams und insbesondere Astana mit Alberto Contador schon auf der dritten Etappe über die „Pavé“-Sektoren die Hölle. Am Tag vor der Begegnung mit den Medien wurde eifrig in Belgien und Nordfrankreich trainiert. Vorne die „Lokomotive“ Fabian Cancellara, dahinter die Schlecks. Es war Andys erste Bekanntschaft mit dem Kopfsteinpflaster. „Ich glaube aber, dass das Rennen vor der Einfahrt in diese Sektoren weitaus gefährlicher ist“, meinte der jüngere der Schlecks. „Da gibt es Positionskämpfe. Stürze sind programmiert. Hoffentlich kommen wir heil heraus.“

Armstrong lebt noch

Neben Contador und den Schlecks meldete vor dem Start in Rotterdam noch ein anderer Fahrer Ansprüche an. Lance Armstrong hatte die Tour sieben Mal hintereinander gewonnen und war nach seinem Comeback im Jahr 2009 auf den dritten Rang gefahren. Er wollte seine Karriere im Dress des RadioShack-Teams mit einem achten Tour-Sieg beenden.

Der damals 38-Jährige fuhr 2010 zweimal aufs Podium (3. Tour de Luxembourg, 2. Tour de Suisse), doch machte sein Ergebnis vom Zeitfahren in Liestal (CH) deutlich, dass er nicht mehr für einen Platz ganz oben auf dem Treppchen in Frage kam. Die Einzigen, die Armstrong eine Zeitlang „über Wasser“ halten könnten, waren seine Mannschaftskollegen Andreas Klöden und Levi Leipheimer. Wenn es aber in den Bergen ganz steil werden sollte … dann „goodbye, boss“.

Dopingsünder

Ein jeder hoffte natürlich, dass die Tour dopingfrei verlaufen würde. Im Kampf gegen die Betrüger setzten die UCI, die französische Anti-Doping-Agentur AFLD sowie die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA auf eine breite Zusammenarbeit. Dabei sollte die UCI die Dopingkontrollen leiten, die WADA das Ganze überwachen und die AFLD mit Tipps von Polizei und Zoll helfen. Auch wollte die UCI, aufgeschreckt durch die Verdächtigungen gegen Fabian Cancellaras „elektrischen Fantasie-Motor“, die Rennräder genauer unter die Lupe nehmen.
Die Reglemente und Sportgesetze besagten, dass die früheren Dopingsünder Ivan Basso und Alexander Winokurow nach Ablauf ihrer Sperre wieder bei der Tour starten durften. Wobei jeder hoffte, dass keiner der beiden eine Etappe gewinnen oder sogar aufs Podium steigen würde. Nach Winokurows Erfolg bei Liège-Bastogne-Liège gab es kaum Applaus, bei Bassos Gesamtsieg im Giro jubelten nur die Italiener.

Serie

In acht Teilen blickt das Tageblatt auf den Tour-Sieg von Andy Schleck aus dem Jahr 2010 zurück. Der 2. Teil, „Ein Prolog zum Vergessen“, folgt am morgigen Samstag.

Andy Schleck auf der Pressekonferenz vor der Tour 2010
Andy Schleck auf der Pressekonferenz vor der Tour 2010