TürkeiDie letzten Christen Südostanatoliens trotzen Krisen, Not und Repression

Türkei / Die letzten Christen Südostanatoliens trotzen Krisen, Not und Repression
Abt Bilecen: nach Corona wegen Terrorverdachts vor Gericht Foto: Kirche in Not

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Offiziell ist die türkische Welt in Ordnung. Zu Ostern hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan „allen christlichen Mitbürgern“ seine besten Wünsche übermittelt und die „Kultur der Koexistenz auf anatolischem Boden“ gepriesen, welche „Frieden und Brüderlichkeit heute und für eine strahlende Zukunft zementiert“. Im vergangenen Sommer hatte Erdogan in Istanbul den medial groß inszenierten Spatenstich für den ersten Neubau einer christlichen Kirche in der Türkei seit 1923 vorgenommen.

Doch es fällt schwer, in solchen Gesten mehr als Imagepolitur zu sehen, solange der Alltag türkischer Christen der einer drangsalierten, binnen 100 Jahren von 20 auf 0,5 Prozent geschrumpften Minderheit ist.

In der Bosporus-Metropole Istanbul mag der Druck auf die Andersgläubigen tatsächlich weniger spürbar sein, als im südostanatolischen Hinterland. In der kargen Kalksteingebirgsregion Tur Abdin entspricht die Unwirtlichkeit der Natur den politischen und sozialen Lebensverhältnissen der Christen hier. Tur Abdin leitet sich aus dem Aramäischen, der Sprache Jesu Christi, ab und bedeutet so viel wie „Berg der Knechte Gottes“. Dementsprechend wurde das Märtyrertum zur Konstante in der Geschichte dieser Christen, deren Ursprünge auf die vom Apostel Paulus gegründete Gemeinde in Antiochia im antiken Syrien zurückgehen.

Abt vor Prozess

Heute freilich ist die Repression nicht immer so offensichtlich, wie Anfang Januar, als der syrisch-orthodoxe Abt des Mor-Yakup-Klosters, Sefer „Aho“ Bilecen, vier Tage in Haft verbrachte. Vor zwei Jahren hatten mehrere Männer an die Kirchentür geklopft und um Essen gebeten. Der Abt wies sie nicht ab und bat sie erst, die Kirche wieder zu verlassen, als er erkannte, dass er Angehörige der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verköstigt hatte. Die Behörden erfuhren davon. Die Folge ist eine Anklage wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“. Schon im März hätte der Prozess gegen Bilecen beginnen sollen, wegen der Corona-Krise wurde er auf unbestimmte Zeit verschoben.

„Die Menschen aus Tur Abdin sagen mir: Das ist leider Gottes alle paar Jahre Standard“ – Slawomir Dadas weiß um die tristen Lebensumstände im Tur Abdin. Der Obmann der österreichischen „Initiative Christlicher Orient“ (ICO) hat die Region mehrfach besucht und organisiert Hilfe für die Menschen vor Ort. „Die Christen erleben sich in ihrer Heimat als nicht willkommen und werden immer wieder schikaniert“, so Dadas zum Tageblatt.

Enteignungen

Das Gefühl, hier nicht erwünscht zu sein, hat viele Ursachen. Zum einen schmerzt im kollektiven Gedächtnis das „Jahr des Schwertes“ 1915, als das Osmanischen Reich nicht nur den Völkermord an den Armeniern verübte, sondern auch Zehntausende syrisch-orthodoxe Christen massakrierte. Seither bilden die Kurden im Tur Abdin die Mehrheit und die Christen stehen zwischen den Fronten: Da ist auf der einen Seite der islamische Staat, dessen Religionsbehörde Diyanet sich Dutzende syrisch-orthodoxe Kirchen, Klöster und Friedhöfe einverleibt hat.

Auf der anderen Seite besetzen Kurden Häuser von bereits im Ausland lebenden Christen und versuchen sie „rechtmäßig“ in Besitz zu nehmen. „Ein derart Enteigneter sagte, er hätte für seinen Grund kämpfen können, aber der Rechtsstreit könne 15 Jahre dauern, was er sich nicht leisten könne“, schildert Dadas das ungewöhnliche Zusammenspiel zwischen türkischem Staat und kurdischen Besetzern. „Es ist nie so klar, dass definitiv enteignet wurde, aber es läuft darauf hinaus.“

Unbegründete Angst

Auch der Dauerkonflikt zwischen Kurden und türkischer Regierung sowie die Kriege drüben im Irak und in Syrien haben viele Christen vertrieben. Die Bilanz eines Jahrhunderts widrigster Umstände: Rund 2.500 Christen gibt es noch in dem Gebiet, wo vor 50 Jahren noch 50.000 lebten. Trotzdem gebe es, so Dadas, „Ängste in der Türkei, dass die christliche Gemeinde wieder erblüht, eine Befürchtung, die völlig grundlos ist“.

Die ICO versucht aber dabei zu helfen, zumindest die Reste des syrisch-orthodoxen Christentums im Tur Abdin vor dem Untergang zu bewahren. „Unser Traum wäre, den Tourismus dort ein bisschen zu beleben“, sagt Dadas. Viele der Kirchen und Klöster aus dem 5. und 6. Jahrhundert wären sicher eine Reise an diese Wiege des Christentums wert. Doch auch nach Corona wird dies ein unerfüllbarer Traum bleiben, solange das Krisendreieck Syrien-Irak-Türkei nicht zur Ruhe kommt. Ein Projekt Dadas‘ ist realistischer: Auf Weihnachtsmärkten in Österreich sollen heuer Kunsthandwerksprodukte aus Tur Abdin angeboten werden. Der wohl bescheidene Erlös wird jedenfalls eine größere Hilfe sein als die „besten Wünsche“, die Präsident Erdogan „allen christlichen Mitbürgern“ sicher auch zu Weihnachten übermitteln wird.