ForumEuropas 15-jährige Talfahrt – ein strukturelles Problem, das eine politische Lösung erfordert

Forum / Europas 15-jährige Talfahrt – ein strukturelles Problem, das eine politische Lösung erfordert
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Europa befindet sich in einer langfristigen Wirtschaftsflaute, die mit dem Beinahe-Zusammenbruch der Wall Street im Jahr 2008 begann. Zwar gab es danach immer wieder Wachstumsschübe (und Hoffnungen), aber diese verpufften meist schnell wieder.

* Zum Autor

Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister, ist Vorsitzender der Partei MeRA25 und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen.

Angesichts der politischen Entscheidungen der Europäischen Union hätte es auch nicht anders kommen können. Diese Politik spiegelte die mangelhafte Konzeption der Eurozone wider und sorgte für chronisch niedrige Investitionen zu einem Zeitpunkt, als massive Investitionen erforderlich waren, um die alternde industrielle Basis Europas von schmutziger Energie, Chemikalien und Verbrennungsmotoren auf Cloud-Kapital und grüne Technologien umzustellen.

Auf beiden Seiten des Atlantiks war die politische Reaktion auf die durch den Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008 ausgelöste Kettenreaktion ähnlich. Die USA und die EU haben die größte und zynischste Übertragung privater Verluste aus den Büchern quasi krimineller Finanziers in die öffentlichen Schuldenbücher vorgenommen und das mit fiskalischen Sparmaßnahmen zur Eindämmung der ausufernden Staatsverschuldung kombiniert. Das Ergebnis? Eine massive Liquiditätsfalle, die die Staatsverschuldung in die Höhe trieb und zur größten Diskrepanz zwischen verfügbarer Liquidität und realen Kapitalinvestitionen aller Zeiten führte.

Das vorhersehbare langfristige Ergebnis war wirtschaftliche Stagnation. Die Malaise war so tief und hielt so lange an, dass es die Politik in Europa und den USA vergiftete. Doch hier enden die Gemeinsamkeiten und beginnt der wachsende Nachteil Europas gegenüber den USA, denn im Gegensatz zu den USA fehlen der Eurozone die föderalen Institutionen, die in Krisenzeiten (wie 1929 oder 2008) eine Währungsunion stabilisieren und vor einem dauerhaften Absturz bewahren können.

Nach 2008 hatte die EU zwei Möglichkeiten, ihre Währungsunion intakt zu halten, von denen nur die erste den dauerhaften Einbruch abwenden konnte. Die erste Option bestand darin, de facto, wenn auch nicht de jure, eine Strategie zu bündeln, die gemeinsame Schulden, erhebliche föderale Steuern und einen fünfjährigen Gesamtplan für gesamteuropäische grüne Investitionen beinhalten würde.

Um sich für diese Option zu entscheiden, müsste Europa sich jedoch vom Neomerkantilismus verabschieden, der für das deutsche und das niederländische Wirtschaftsmodell von zentraler Bedeutung ist und den Kern der Eurozone bildet. Man könnte meinen (und ich tue das auch), dass die europäischen Eliten die Aufgabe des Neomerkantilismus als einen relativ geringen Preis für die Vermeidung einer dauerhaften Rezession betrachten würden.

Stagnation der Investitionen

Aber sie hätten sich geirrt. Die erfolgreichsten europäischen Nettoexporteure und ihre politischen Vertreter waren weit weniger um die Dynamik Europas besorgt als um die Aufrechterhaltung ihrer Abhängigkeit von Nettoexporten, die durch das US-Handelsdefizit (eine konstante Quelle der Gesamtnachfrage nach ihren Waren) gestützt werden. Auch die Bedeutung ihrer Nettoexporte nach China und die Unterdrückung der deutschen Löhne waren ihnen wichtiger als die Chance für Europa, seine Dynamik wiederzuerlangen.

Die zweite Option bestand darin, die quasi-föderale Option zu vermeiden, indem auf massive Sparmaßnahmen für die am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten der Eurozone gesetzt wurde, begleitet von einer ebenso massiven quantitativen Lockerung zugunsten der weniger betroffenen Teile der Währungsunion. Diese Option wurde gewählt, und die erbarmungslose Behandlung Griechenlands, des bankrottesten Mitglieds der Eurozone, sollte den anderen Mitgliedstaaten diese Entscheidung signalisieren.

Das Ergebnis war die Rettung des Euro um den Preis einer dauerhaften Stagnation der Gesamtinvestitionen in ganz Europa und einer sich vertiefenden Kluft zwischen dem Norden und dem Süden der EU (wobei sich auch eine neue Kluft zwischen Ost und West auftut). Inzwischen haben die USA eine Welle öffentlicher Investitionen ausgelöst, die europäische Industriekonglomerate in die USA lockt und damit die in der EU bestehende Investitionslücke weiter vergrößert. Es überrascht nicht, dass die EU trotz ihrer Erklärungen zum Green Deal nicht in der Lage ist, ihren eigenen ökologischen Wandel zu finanzieren, ganz zu schweigen vom Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg.

Die Gefahr besteht heute nicht mehr darin, dass die europäischen Politiker die Sparmaßnahmen noch weiter verschärfen. Ihre bevorzugte Kontraktionswaffe ist heute die Geldpolitik. Nachdem sie den Fehler begangen haben, eine mutige und progressive Geldpolitik zu vermeiden, die den jüngsten Inflationsschub hätte verhindern können, straffen sie nun zu stark und zu lange. Das Ergebnis ist, dass eine bereits zersplitterte Währungsunion, die inmitten einer hartnäckigen Inflation (trotz rasch schrumpfender Geldmenge) am Rande einer Rezession steht, hinter China und den USA zurückfällt.

Unvollendete europäische Integration

Die Ursache all dessen ist struktureller Natur. Die kontraktive und daher lähmende Austerität ist nach wie vor fest im derzeitigen institutionellen Rahmen Europas verankert – eine Tatsache, die Regierungen aller politischen Couleur daran hindert, andere politische Ansätze auszuprobieren. Die unvollendete Architektur der europäischen Integration verbietet es, mit der Art von Industriepolitik zu experimentieren, wie sie die USA derzeit verfolgen (im Rahmen des Inflation Reduction Act und des CHIPS and Science Act), oder mit anderen Agenden.

Zwar weicht die deutsche Regierung von der EU-Orthodoxie ab, indem sie enorme öffentliche Mittel zur Stützung ihres schwächelnden Industriemodells einsetzt. Dies geschieht jedoch um den Preis der Zerstörung des Binnenmarktes und der (eher theoretischen als realen) Verpflichtung zu gleichen Wettbewerbsbedingungen in ganz Europa. Die EU-Mitgliedstaaten, die mit den deutschen Subventionen nicht mithalten können, insbesondere diejenigen, die ihre Industrien nicht durch Abwertung schützen können, müssen bald mit Gegenreaktionen rechnen.

Die Cheerleader der EU feiern das Überleben des Euro, die Tatsache, dass die Staatsverschuldung nicht mehr die Bedrohung ist, die sie einmal war, und vor allem, dass ihr merkantilistisches Wirtschaftsmodell intakt bleibt. Tief in ihrem Herzen wissen sie, dass sie dieses kleine Wunder denjenigen zu verdanken haben, die in der Europäischen Zentralbank (gegen den erbitterten Widerstand der Bundesbank) hart daran gearbeitet haben, die Gelddruckmaschinen der EZB anzuwerfen und eine Flut von Euros freizusetzen, um in Italien ein Ergebnis wie in Griechenland zu verhindern.

Aber der Preis dafür ist hoch: Europas permanente Stagnation und anhaltende Fragmentierung. Die Europäische Währungsunion ist nach wie vor katastrophal unvollständig, da ihr die notwendige politische und fiskalische Union fehlt, um zu funktionieren; schlimmer noch, 15 Jahre Malaise haben die Sackgasse noch vertieft. Wir Europäer müssen uns entweder auf einen dauerhaften Niedergang einstellen, der uns durch unsere problematische Währung aufgezwungen wird, oder etwas dagegen unternehmen. Ein strukturelles Problem erfordert eine politische Lösung.


Übersetzung: Andreas Hubig / © Project Syndicate, 2023