ForumSchwierige Zeiten erfordern klare Verhältnisse

Forum / Schwierige Zeiten erfordern klare Verhältnisse
 Symbolbild: Jens Büttner/dpa

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In weniger als einem Monat stellen die Wähler die politischen Weichen für die nächsten fünf Jahre. Viele neue Parteien fühlen sich berufen. In Wirklichkeit werden bloß vier Parteien Verantwortung in der nächsten Regierung übernehmen können: CSV, LSAP, DP und Grüne.

Luxemburg wurden bislang die Exzesse anderer Demokratien erspart. Etwa der USA, Großbritanniens oder Frankreichs, wo das Wahlsystem nach dem K.o.-Verfahren erfolgt: „The Winner takes it all.“ Was zu abrupten Kurswechseln führt, die weder den Bürgern noch der Wirtschaft dienen.

Siehe die explosive Polarisierung in den drei genannten Staaten. Trumps Weigerung, seine knappe Niederlage einzugestehen, führte zum Sturm auf das Kapitol. Seitdem stehen sich Demokraten und Republikaner in einem ideellen Bürgerkrieg gegenüber, der nicht viel Gutes für die Wahlen im kommenden Jahr verspricht.

In Großbritannien konnten sich die Tories dank ihres gefährlichen Spiels um Europa an der Macht halten. David Cameron gewann seine letzte Wahl mit dem Versprechen, ein Referendum über die EU-Zugehörigkeit des Vereinten Königreichs zu organisieren. Eine knappe Mehrheit glaubte, mit einem Austritt aus der EU würde alles besser. Vier Premierminister später, darunter der großmäulige Boris Johnson, sind die Briten völlig desillusioniert. Der vor 100 Jahren mächtigste Staat der Welt geht den finanziellen und wirtschaftlichen Krebsgang. Große Gemeinden melden Konkurs an. Europas Schutzschild fehlt. Die illegale Zuwanderung erreicht ohne den bequemen Sündenbock „Schengen“ neue Rekorde. Die britische Gesellschaft ist tief gespalten.

So auch in Frankreich. Wo Macron keine Mehrheit im Parlament hat. Die klassischen Regierungsparteien, Gaullisten und Sozialisten, spielen kaum eine Rolle. Linksextremisten um den begnadeten Demagogen Mélenchon oder Rechtsextremisten um die Erben des Jean-Marie Le Pen versuchen mit eigentlich dem gleichen Ultranationalismus, die „Grande Nation“ unregierbar zu machen.

Demokratien mit Proporz-Wahlrecht stehen besser da

In Europa stehen die Demokratien mit Proporz-Wahlrecht besser da: Deutschland, die Benelux-Staaten, die Skandinavier. Da dort nie eine einzelne Partei sich allein austoben kann, sondern es den Zwang zum Koalieren und damit zu vernünftigen Kompromissen gibt, bleiben den Bürgern dieser Länder Extreme erspart.

Es gibt zwar in allen parlamentarischen Demokratien einen harten Wettstreit zwischen Regierung und Opposition. Jede Opposition muss die Regierenden verteufeln. Eine Opposition lebt mehr von den Fehlern der Regierung als von den eigenen Ideen.

In Wirklichkeit ist die politische Manövrierfähigkeit aller Parteien heute sehr gering. Besonders in kleinen bis mittleren Ländern. Wozu UK, Frankreich und Deutschland gehören. Überall wird das politische Spielfeld durch Sachzwänge eingezäunt. Die Covid-Pandemie erwischte alle Staaten kalt. Niemand war vorbereitet. Alle mussten improvisieren: mit Lockdowns, Impfkampagnen, „Koste, was es wolle“-Programmen für Bürger und Wirtschaft.

Covid, der Ukraine-Krieg, die Energie-Krise, die Rückkehr der Inflation, die steigende Staatsverschuldung waren in keinem Wahlprogramm vorgesehen. Auch bei diesem Wahlgang gibt es keine Überlegungen darüber, wie ein Zuspitzen des neuen „kalten Krieges“ zwischen den USA und China oder eine Krise um Taiwan sich auf Europa wie auf Luxemburg auswirken könnte.

Allgemeinplätze der Parteien ähneln sich

Alle Parteien reden vom Klima. Geben vor, von Luxemburg aus den „Planeten zu retten“. Mehr Fotovoltaik, mehr Windenergie und „sauberer“ Wasserstoff sollen her. Als ob ein Land, das 80% seiner Elektrizität importiert, vor allem 100% seines anderen Energie-Bedarfs, je energetisch unabhängig werden könnte. Oder gar, wie eine Statec-Prognose vorgaukelt, bis 2050 die „Netto-Null“ erreichen könnte. Wo werden die Klimagase angerechnet, die durch die Gewinnung all jener Mineralien und seltenen Erden entstehen, ohne die kein Solarpanel, keine Windturbine oder kein Wasserstoff-Generator funktioniert? Ganz zu schweigen von den unumgänglichen Batterien, ohne die weder E-Autos noch Wärmepumpen dauerhaft laufen.

Wer sich die Wahlprogramme der zwölf Parteien anschaut – was die wenigsten Bürger tun –, wird auf ziemlich ähnlich gelagerte Allgemeinplätze stoßen. Deren Unverbindlichkeit eine Koalitionsoffenheit nach allen Seiten belegt.

Manche Kommentatoren ereifern sich darüber, dass keine Partei sich auf eine bestimmte Koalition festlegen will. In Wirklichkeit ist es vorteilhaft, dass es kaum Berührungsängste zwischen den wichtigsten Parteien gibt. Ein Land wie Luxemburg kann sich keine Bürgerkriegs-Stimmung erlauben. Unser Erfolg ist unsere Anpassungsfähigkeit. Eine Kompromissbereitschaft, die Extremen abhold bleibt.

Die nächste Regierung wird es nicht einfach haben. Der zwar ungeliebte Finanzplatz, der uns in den letzten 40 Jahren viele Sonderwünsche erlaubte, steht vor einem Umbruch. Niemand weiß, wie sich die internationale Finanzwelt neu organisieren wird, wenn 2024 die neuen Regeln über Transparenz und Mindest-Steuersätze in Kraft treten. New York wird immer New York bleiben. Tokio, London, Frankfurt, Paris ebenfalls. Luxemburg, Dublin und viele andere Finanzmetropolen müssen sich neu erfinden.

Die nächste Regierung muss den Haushalt sanieren. Die Frage ist nicht, ob die Staatsschuld 30% unseres Sozialproduktes überschreiten darf. Die Frage ist, welche Zinslast tragbar ist. Zumal sich Defizite im Sozialbereich anhäufen. Jetzt schon bei der Kranken-, spätestens 2027 bei der Rentenkasse.

Dazu kommen die vielfältigen Probleme einer schnell wachsenden Bevölkerung – die ihren Wohlstand vornehmlich den ausländischen Mitbürgern und Grenzgängern verdankt, die zwei Drittel unserer aktiven Bevölkerung stellen. Mit allen damit verbundenen Problemen, im Verkehr, in der schulischen oder medizinischen Versorgung, am Wohnungsmarkt.

Die nächste Regierung wird unbequeme Entscheidungen treffen müssen

Der 8. Oktober wird zu einer Schicksalswahl. Die nächste Regierung wird unbequeme Entscheidungen treffen müssen. Alle Parteien versprechen zwar Steuererleichterungen für die Mittelschichten. Luc Frieden selbst für die Reichen. Wahrheit ist, dass die Hälfte der Steuerpflichtigen keine oder nur sehr wenige Steuern zahlt und daher nicht durch Steuergeschenke in ihrer Kaufkraft bestärkt werden kann. Der „Mittelstands-Buckel“ stellt in Luxemburg ein breites Gebirge dar. Je nachdem, wo man die Grenze zieht, wird die Zahl der zu schleifenden spitzen Gipfel selten. Ist man in Luxemburg „reich“ ab einem Einkommen von 200.000, 500.000 oder einer Million Euro? Wer nur die 200 Einkommens-Millionäre des Landes schröpfen will, um alle anderen zu „entlasten“, wird nicht weit kommen.

Welche politische Konstellation soll all dies schaffen? Der jüngsten Meinungsumfrage zufolge könnte das derzeitige Dreierbündnis eine knappe Mehrheit behalten. Selbst knappe Mehrheiten können viel leisten. Besonders wenn die Führung stark ist.

Xavier Bettel ist nicht ohne Verdienste. Seine Regierung hat die Covid- und Ukraine-Krise gut gemeistert. Doch die wahren Macher hinter dem Tausendsassa der Spaßgesellschaft hießen Etienne Schneider, Félix Braz, Dan Kersch, François Bausch, Pierre Gramegna sowie Paulette Lenert. Die fünf Erstgenannten stehen nicht mehr zur Verfügung. Nur Paulette Lenert ist bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Entscheiden werden es die Wähler. Bettel, Frieden und Tanson treten im Zentrum an. Alles ehrbare Politiker. Doch Sam Tanson wird selbst von eingefleischten Grünen nicht als Premier gesetzt. Luc Frieden bleibt belastet durch seine Vergangenheit als rücksichtsloser Sanierer im Schatten der Scheiche. Xavier Bettel wird den Popularitätstest im Zentrum gewinnen.

Lenert kandidiert im kleinsten Bezirk. Um zu überzeugen, muss sie dort die meisten Stimmen erhalten. Ihre Chancen stehen gut, da sie erfrischend anders wirkt als die meisten Politiker. Sie wirkt besonnen, nicht dogmatisch, mit einem echten Verständnis für die Probleme ihrer Mitmenschen. Es war diese nicht gespielte Empathie, die während der Pandemie die ehemalige Verwaltungsrichterin an die Spitze der nationalen Sympathie-Skala katapultierte. Gemeinsam mit Jean Asselborn, dem Radler der Nation.

Doch bei Wahlen entscheidet letztlich die Arithmetik der Sitze. Wer Lenert will, muss die LSAP wählen. Wer Bettel will, muss die DP wählen. Wer Frieden will, die CSV. Wer seine Stimmen an andere Parteien vergeudet, oder quer durch den politischen Gemüsegarten panaschiert, verhindert eine stabile Mehrheit mit klaren Verhältnissen für die Spitze der Regierung.

Die Grünen haben sich ideologisch verrannt. Die Piraten sind Gaukler ohne politische Linie. Die ADR bleibt eine Protestpartei. Die „Lénk“ wollen nicht einmal Verantwortung übernehmen. Alle anderen Parteien werden auf dem Müllhaufen der Geschichte enden.

Eine Ministerpräsidentin für Luxemburg wäre mehr als ein Systemwechsel. Yes we can!

Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter.