TürkeiEine weitere Waffe gegen die Meinungsfreiheit

Türkei / Eine weitere Waffe gegen die Meinungsfreiheit
Gokhan Bicici, Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals dokuz8NEWS in Istanbul, befürchtet zunehmende staatliche Gewalt gegen Journalisten Foto: Yasin Akgul/AFP

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Wer über den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan schreibt oder spricht, muss seine Worte wägen. Zehntausende Menschen, auch Teenager und Ausländer, wurden in den vergangenen Jahren in der Türkei wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt und vielfach mit Gefängnis bestraft.

Vor der für Erdogan entscheidenden Wahl im Juni hat die Türkei ihr Mediengesetz weiter verschärft, Journalisten und Oppositionelle fürchten noch mehr Repression. „Dieses Desinformationsgesetz ist eine weitere Waffe gegen uns im Arsenal der Regierung“, urteilt Gokhan Bicici, Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals dokuz8NEWS in Istanbul. „Strafverfolgung, Ermittlungen und Drohungen gehören bereits jetzt zu unserem Alltag.“ Laut dem im Oktober vom Parlament verabschiedeten neuen Mediengesetz kann die Verbreitung von „Falschinformationen“ mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werde. Was genau „Fake News“ sind, bleibt offen.

„Dieses Gesetz wird den letzten Rest Meinungsfreiheit zerstören“, sagt Gökhan Durmus, der Vorsitzende der türkischen Journalistengewerkschaft. Auf der Rangliste zur Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei mit Platz 149 von 180 Ländern schon jetzt ganz weit hinten.

Presserechtler warnen, dass die Behörden auf der Grundlage des neuen Gesetzes auch das Internet abschalten könnten. Nach dem tödlichen Anschlag in Istanbul Mitte November war bereits zeitweise der Zugang zu den Online-Netzwerken gesperrt worden. Die meisten türkischen Zeitungen und Fernsehsender sind regierungstreu, aber die sozialen Netzwerke und Internet-Medien berichteten unabhängig – sehr zum Missfallen Erdogans.

Strafverfolgung, Ermittlungen und Drohungen gehören bereits jetzt zu unserem Alltag

Gokhan Bicici, Chefredakteur eines unabhängigen Nachrichtenportals

Die Wahl im Juni, bei der er für eine weitere Amtszeit als Präsident kandidiert, wird die schwierigste für ihn, seit er 2003 Regierungschef wurde. Angesichts einer Inflation von über 80 Prozent ist seine islamisch-konservative AKP so unbeliebt wie noch nie.

„Es ist daher nicht überraschend, dass die erste Person, die nach dem neuen Gesetz verfolgt wird, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei ist“, sagt der Jurist Yaman Akdeniz. Der CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, wahrscheinlicher Herausforderer Erdogans 2023, wird für einen Tweet verfolgt, in dem er der Regierung Drogenhandel vorwarf. Das Gesetz lasse den Behörden „einen großen Ermessensspielraum“ und öffne so das Tor zur Willkür, urteilt Akdeniz.

Erdogan verteidigt das neue Gesetz als „dringend notwendig“ und beschuldigt die Online-Netzwerke, „ohne moralische oder ethische Grenzen das Feuer des Hasses zu schüren“.

Journalisten fürchten um ihre Sicherheit

Die Regierung rüste sich, um die sozialen Medien weitreichend zu kontrollieren, sagt Emma Sinclair-Webb von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. „Das Gesetz bringt die Tech-Unternehmen in eine sehr schwierige Lage: Entweder müssen sie sich daran halten und Inhalte entfernen oder sogar Nutzerdaten herausgeben, oder hohe Strafen in Kauf nehmen“, sagt sie.

Kurdischen Journalisten und Medien stehen ebenfalls im Visier: „Seit Sommer wurden viele Journalisten verhaftet, die für kurdische Medien arbeiten“, sagt Fatma Demirelli von der Organisation P24, die für Pressefreiheit eintritt. „Wir befürchten, dass das neue Gesetz die Situation noch weiter verschlechtert.“

Ende Oktober wurden neun Journalisten wegen angeblicher Verbindungen zu als „terroristisch“ eingestuften Organisationen wie der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) festgenommen. Nach Angaben der Plattform Expression Interrupted sitzen damit 76 Journalisten in der Türkei im Gefängnis.

„Von nun an sind selbst die unabhängigsten Journalisten vor allem damit beschäftigt, vorsichtig zu sein und möglichst nicht zur Zielscheibe zu werden“, sagt Chefredakteur Bicici. „Wir sind bereits Opfer von Gewalt geworden, aber ich habe das Gefühl, dass es noch mehr Druck geben wird“, pflichtet ihm seine Kollegin Fatos Erdogan bei. „Ich mache mir Sorgen um unsere Sicherheit.“ (AFP)