Sonntag26. Oktober 2025

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Ukraine„Dass keine Fliege durchkommen kann“: Putin verkündet Einnahme von Mariupol und lässt Stahlwerk abriegeln

Ukraine / „Dass keine Fliege durchkommen kann“: Putin verkündet Einnahme von Mariupol und lässt Stahlwerk abriegeln
Aus Mariupol geflüchtete Menschen brechen in Saporischschja in Tränen aus Foto: AFP/Ed Jones

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Trotz des Ausharrens zahlreicher ukrainischer Kämpfer in Mariupol hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Hafenstadt für erobert erklärt. Die „Befreiung“ der Stadt sei ein „Erfolg“ für die russischen Streitkräfte, sagte Putin am Donnerstag.

Russland hat nach eigenen Angaben die ukrainische Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer nach 52 Tagen Kampf eingenommen. Laut dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu halten sich nur noch „Nationalisten und ausländische Söldner“ in dem Stahlwerk „Asowstal“ verschanzt. In drei, vier Tagen sei auch dieses Werk erobert, berichtete Schoigu seinem Chef Wladimir Putin in einer vom russischen Staatsfernsehen übertragenen Planungssitzung.

„Ich halte die vorgeschlagene Stürmung der Industriezone für unnötig“, widersprach Putin und verlangte effektvoll den Rückzug eines zuvor offenbar selbst gegebenen Befehls. „Es gibt keinen Grund, in diese Katakomben zu klettern und unter der Erde durch die industriellen Einrichtungen zu kriechen. Sperren Sie stattdessen dieses Industriegebiet so ab, dass keine Fliege hindurchkommen kann“, befahl er seinem Verteidigungsminister. Putin äußerte sich damit erstmals direkt als Oberbefehlshaber zum Krieg in der Ukraine.

Putin als Feldherr

Das lässt aufhorchen. Der Kreml-Herr will sich wohl vor heimischem Publikum als humanitärer Feldherr zeigen, womöglich vor dem Hintergrund wachsender Kritik am brutalen Vorgehen russischer Soldaten in der Ukraine. Stattdessen formulierte Putin eine erneute Aufforderung an die letzten Verteidiger von Mariupol, die Waffen niederzulegen. „Die russische Seite garantiert ihnen, dass sie am Leben bleiben und würdevoll behandelt werden. Alle Verletzten werden mit professioneller ärztlicher Hilfe versorgt werden.“

Laut den Kommandanten des etwas über einen Quadratkilometer großen Industriegeländes im Ostteil der einstigen 440.000-Einwohner-Stadt, die inzwischen zu 90 Prozent zerstört sein soll, befinden sich rund 500 verletzte Soldaten dort sowie etwa 1.000 Zivilisten, meist Frauen und Kinder von Soldaten des wegen rechtsextremer Ideologien umstrittenen Freiwilligenbataillons „Asow“. Dazu kommen rund 3.000 kampferfahrene Soldaten, denen allerdings die Munition ausgeht.

Staatschef als Feldherr: Russlands Präsident Putin sagt seinem Verteidigungsminister Schoigu, was in Mariupol zu tun ist
Staatschef als Feldherr: Russlands Präsident Putin sagt seinem Verteidigungsminister Schoigu, was in Mariupol zu tun ist Foto: dpa/Russian Presidential Press Service

„Für unsere Verteidiger und die Zivilisten im Asowstal-Gelände ändert sich damit gar nichts“, kommentierte ein Berater des Kiew-treuen Bürgermeisters Putins vermeintliche Großzügigkeit. Hinter dem russischen Angebot dürfte auch das Bestreben stehen, das Stahlwerk möglichst nicht völlig zerstört zu übernehmen – und vor allem die eigenen Soldaten zu schützen. „Wir müssen an das Leben und die Gesundheit unserer Soldaten und Offiziere denken“, sagte Putin. Laut Berater Petro Andriuschtschenko werden im „Asowstal“-Werk gefangene Soldaten und Zivilisten kein Vertrauen in Putin haben und sich nicht ergeben.

Russland will neue „Volksrepublik“ in Cherson

Russland bereitet nach ukrainischen Angaben ein Referendum über die Gründung einer „Volksrepublik Cherson“ vor. Das erklärt ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit Blick auf das umkämpfte Gebiet im Südosten des Landes. Die russische Führung würde damit dem Beispiel in den Regionen Luhansk und Donezk folgen – und die Ukraine weiter zerstückeln. In den von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbass waren im Mai 2014 Volksabstimmungen über ihre Selbstständigkeit abgehalten worden. Kurz vor Beginn des Krieges hatte Russland die beiden selbsternannten Volksrepubliken als unabhängig anerkannt. Ende März hat die „Volksrepublik Luhansk“ erklärt, sie könne bald ein Referendum über einen Beitritt zur Russischen Föderation abhalten. Der Anführer der „Volksrepublik Donezk“, Denis Puschilin, erklärte ebenfalls, es solle ein Beitritt geprüft werden. Auch auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim, die an Cherson grenzt, wurde 2014 ein Referendum abgehalten, in dem sich die mehrheitlich russisch-stämmige Bevölkerung für den Anschluss an Russland aussprach. Auch dies ist international nicht anerkannt.
Im Süden der Ukraine waren den Russen anders als im Raum Kiew oder Charkiw früh Erfolge gelungen. Das Gelände im Süden der Ukraine wird von Steppe dominiert. Hinterhalte, wie sie die Ukrainer in den ersten Kriegswochen erfolgreich auf Nachschubkonvois der Russen im Norden durchführten, sind sehr schwierig. Zu den ersten Erfolgen zählten die Einnahme der Hafenstadt Cherson und die Überschreitung des Flusses Dnjepr in der Oblast Cherson. Die Russen haben es hier auch früh geschafft, den Kanal zur Krim wieder freizuräumen und die Halbinsel mit Wasser zu versorgen – was eines der erklärten Kriegsziele Putins war. Nach der Krim-Annexion 2014 hatte die Ukraine der Halbinsel hier das Wasser abgedreht. Dass die Russen einmal erobertes Gebiet von solcher strategischer Bedeutung freiwillig wieder aufgeben werden, gilt als kaum vorstellbar. (A.B., Reuters)

Marineinfanterie-Kommandant Serhij Wolynskyj hat in der Nacht auf Donnerstag einen neuen verzweifelten Appell, diesmal speziell „an das deutsche Volk“ gerichtet: „Mariupol ist noch zu retten! Die Welt muss endlich ‚nie wieder‘ sagen und uns helfen.“ In seinem bisher dritten Hilferuf bittet er Deutschland, „als Garant für den sicheren Auszug der Zivilbevölkerung und des Militärs aus der belagerten Stadt aufzutreten“. Das Böse, das die Welt 1945 habe stoppen können, sei jetzt wieder da, schreibt Kommandant „Wolny“: „Die russischen Besatzer zerstören unsere Städte, töten unsere Kinder, vergewaltigen unsere Frauen und verüben einen Genozid an unserem Volk.“ Deutschland könne sich jetzt „auf die richtige Seite der Geschichte stellen und den Faschismus im Keim stoppen, ehe er alles um sich herum verbrennt“.

Leichen mit Folterspuren

Trotz Putins humanitären Versprechungen wurden die Stadt und das „Asowstal“-Werk auch am Donnerstag von russischen Invasionstruppen bombardiert. Bis Redaktionsschluss gelang es, 79 Menschen aus Mariupol in von Kiew kontrolliertes Gebiet zu evakuieren. Rund 100.000 Einwohner harren weiterhin einer Lösung. Die ukrainische Seite spricht bereits jetzt von Zehntausenden Toten.

Der Screenshot aus einem Drohnenvideo zeigt den Rauch nach einer Explosion auf dem Stahlwerkgelände in Mariupol am 19. April
Der Screenshot aus einem Drohnenvideo zeigt den Rauch nach einer Explosion auf dem Stahlwerkgelände in Mariupol am 19. April Foto: AFP/Handout/Mariupol City Council

Im restlichen Donbass und im Süden des Landes setzten die russischen Streitkräfte ihren Artilleriebeschuss am Donnerstag fort. Die ukrainische Seite meldete heftige Gefechte unter anderem aus der Region Isjum sowie in den Städten Popasna und Rubischne in der Region Luhansk. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, es habe eine Reihe von Luftangriffen ausführen lassen, darunter auch auf das südliche Mykolajiw. Der Donbass, den Putin in den kommenden Wochen einnehmen will, umfasst ein fast 55.000 Quadratkilometer großes Gebiet und ist damit etwa doppelt so groß wie Belgien. Das Gebiet an der Grenze zu Russland, das sich bis zur umkämpften Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer erstreckt, verfügt über riesige Kohle- und Metallerzvorkommen.

In Borodjanka in der Nähe von Kiew wurden derweil nach ukrainischen Angaben neun Leichen von Zivilisten gefunden, von denen einige Folterspuren aufwiesen. Die russischen Streitkräfte hatten sich Ende März im Norden der Ukraine zurückgezogen. Kiew und westliche Staaten werfen Russland Kriegsverbrechen vor. In den Leichenhallen der Region Kiew sollen derzeit mehr als tausend zivile Todesopfer liegen.