Montag27. Oktober 2025

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GroßbritannienLondon will Bootsflüchtlinge nach Ruanda abschieben

Großbritannien / London will Bootsflüchtlinge nach Ruanda abschieben
Die britische Innenministerin Priti Patel (l.) und der ruandische Außenminister Vincent Biruta haben gestern ein Abkommen über die Zwangsdeportation von Menschen aus Großbritannien nach Ruanda unterzeichnet Foto: AFP/Simon Wohlfahrt

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Im Kampf gegen den Menschenhandel mit Wirtschaftsmigranten setzt Großbritannien auf eine afrikanische Lösung. Zukünftig werden alleinreisende junge Männer, die per Lastwagen oder Schlauchboot auf die Insel kommen, ins 7.000 Kilometer entfernte Ruanda geflogen. Dort sollen sie Aufnahme und ein Asylverfahren erhalten, eine Rückkehr ins Königreich wäre ausgeschlossen.

„Wir holen uns die Kontrolle über unsere Grenzen zurück“, sagte Premier Boris Johnson am Gründonnerstag in Anspielung auf einen Slogan der erfolgreichen Brexit-Kampagne. Innenministerin Priti Patel wollte am Donnerstag in Kigali einen Vertrag mit der wegen Menschenrechtsverletzungen umstrittenen Regierung von Präsident Paul Kagame abschließen. Für die Anlaufphase bezahlt London 120 Millionen Pfund (144,5 Mio. Euro); wenn das Vorhaben wie geplant gelingt, würde London jährlich 1,4 Milliarden Pfund (1,68 Mrd. Euro) überweisen.

Johnson sprach von einem „weltweit führenden Asylsystem“ und brüstete sich damit, jährlich würden Tausende von Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Ukraine auf sicherem Weg aufgenommen. Gerade deshalb müsse man dem „parallelen illegalen System“ beikommen. Dazu gehört auch, dass nun die Navy im Ärmelkanal patrouillieren soll. Inwiefern dies die internationalen Verpflichtungen des Königreichs verändert, ließ der Premierminister offen.

An klaren Tagen mit ruhiger See wie derzeit schaffen viele hundert Menschen täglich die gefährliche Reise, am Mittwoch gelang mehr als 600 die Überfahrt. Diese kostet zwischen 3.000 und 7.000 Euro pro Person; immer wieder kommt es zu Todesfällen.

Wir holen uns die Kontrolle über unsere Grenzen zurück

Boris Johnson, britischer Premierminister

Menschen aus der Ukraine und deren britische Verwandte und Bekannte beklagen seit Wochen die bürokratischen Hürden, die Patel den Kriegsflüchtlingen in den Weg legt. Als einziger Staat Westeuropas beharrt Großbritannien darauf, dass Einreisewillige vorab online ein Visum beantragen müssen. Deren Bearbeitung verläuft so schleppend, dass die viel kleinere Nachbarinsel Irland inzwischen mehr Ukrainer aufgenommen hat als die sechstgrößte Industrienation der Welt.

Die Ministerin hat ihr neues Grenzschutzgesetz mit der Behauptung begründet, das bestehende Asylsystem sei „kaputt“. Zukünftig sollen nicht nur verurteilte Menschenschmuggler automatisch lebenslange Freiheitsstrafen erhalten. Auch die „illegal“ Einreisenden sollen im Knast landen. Dem „ekelhaften Geschäft krimineller Banden“ müsse das Handwerk gelegt werden, fordert Patel: „Zugang zum Asylsystem sollte von der Notlage abhängen, nicht von der Zahlungsfähigkeit.“

Oberhaus wies Vorschlag bereits zweimal ab

Die Lobbyorganisation Refugee Council sprach von einer „grausamen und hässlichen“ Maßnahme. „Anstatt dauernd von Kontrolle zu reden, sollte sich die Regierung auf Kompetenz und Mitgefühl konzentrieren“, findet RC-Chef Enver Solomon. Im Land gebe es schließlich viele Millionen von Menschen, deren Eltern oder Großeltern auf gefährlichem Weg ins Land gekommen seien.

Das ist eine unverkennbare Anspielung auf die Eltern der Innenministerin. Deren Großeltern waren aus dem indischen Gujarat nach Uganda emigriert, die Eltern kamen in den 1960er Jahren nach Großbritannien, noch ehe der ugandische Diktator Idi Amin sämtliche aus Asien stammenden Bürger 1972 aus dem Land warf. Justizminister Dominic Raab stammt von einem jüdischen Flüchtling vor der Nazi-Diktatur ab, Bildungsminister Nadhim Zahawis Familie floh in den 1970er Jahren vor der Unterdrückung durch Saddam Hussein aus dem Irak.

Kritiker der Abschiebung von Asylbewerbern nach Übersee wiesen auf eine peinliche Tatsache hin: Das neue Grenzschutzgesetz, das die Möglichkeit für diese Maßnahme enthält, befindet sich noch im parlamentarischen Verfahren. Das Oberhaus hat bereits zweimal die vom Unterhaus mit konservativer Mehrheit beschlossene Novelle zurückgehen lassen. Heftige Kritik galt dabei neben der sofortigen Inhaftierung für Asylbewerber, die sich den Behörden ohne Visum präsentieren, der jetzt geplanten Einrichtung von Flüchtlingszentren weitab der Insel.

Ruanda ist lediglich der jüngste Standort, den Patel geprüft hat. Zuvor waren bereits die zu den Resten des britischen Kolonialreiches zählende Ascension Island, auf Deutsch Himmelfahrtsinsel, im Südatlantik genannt worden. Die von London ebenfalls als Auffangstaaten ins Spiel gebrachten Länder Albanien und Ghana haben das britische Anliegen brüsk zurückgewiesen.

Jubel in Londons konservativen Zeitungen

Ob die jetzt präsentierte Lösung – wegen der vielen unausgegorenen Faktoren verlegen als „Versuch“ gekennzeichnet – längeren Bestand haben wird als frühere Ideen wie jene, die Schlauchboote im Ärmelkanal durch künstlich produzierte Wellen abzuschrecken? In jedem Fall kommt ein heftiger Streit mit der Opposition, auch in der eigenen Partei, sowie der Asyl-Lobby Johnsons Brexit-Regierung gerade recht, gilt es doch von den massiven Rechtsbrüchen in der Downing Street während der Corona-Lockdowns abzulenken.

Am Dienstag hatte die Kripo dem Regierungschef sowie Finanzminister Rishi Sunak wegen Johnsons 56. Geburtstagsfeier im Juni 2020 Bußgeldbescheide zugestellt und damit Verstöße gegen die selbst erlassenen Vorschriften im Kampf gegen Sars-CoV-2 bescheinigt. Da der Premier noch an mindestens zwei weiteren Lockdown-Partys beteiligt war, rechnet das politische London mit weiteren Geldstrafen; das würde die Stimmung in der konservativen Unterhausfraktion nicht gerade heben. Energischer Kampf gegen das vermeintlich große Problem der Wirtschaftsmigration hingegen kommt beim Partei- und Wahlvolk immer gut an, von den überwiegend konservativen Londoner Zeitungen ganz zu schweigen. Das Projekt werde „die Schmugglerbanden zerschlagen“, jubelte Daily Mail auf der Titelseite; Daily Express lobte Johnsons „mutigen Plan“, The Sun nannte das Vorhaben „radikal“.