„Den ganzen Tag über fliegen Hubschrauber und Raketen über mein Dorf, aber sie greifen uns nicht an“, berichtet Gennady P., der sich vor ein paar Tagen aus der Hauptstadt in den Süden zurückgezogen hat. Von hier aus will der ehemalige Polizeigeneral einen der letzten offenen Zufahrtswege nach Kiew verteidigen. Gennady will am Telefon weder seinen vollen Namen noch jenen seines Dorfes nennen. „Sie verstehen, das sind Militärgeheimnisse, es ist sicherer so“, entschuldigt er sich. Ende der 90er-Jahre hat er in Warschau als Verbindungsoffizier der noch jungen unabhängigen Ukraine gearbeitet und mit seinen polnischen Kollegen zusammen die Mafia gejagt. Damals hatte er auch gute Kontakte zur russischen Polizei. „Diese Freundschaften sind zum Glück schon früher erkaltet, das macht es heute einfacher“, sagt Gennady, der an der Straßensperre gleich seinen Nachtdienst antreten muss.
„Wir haben Granaten und Gewehre, und auch Molotowcocktails, es ist nicht viel, aber damit müssen wir sie aufhalten, Zeit gewinnen“, erzählt Gennady. 20 Familienmitglieder und Freunde hat er aus Kiew in sein Haus auf dem Dorf evakuiert. Sie versorgen sich dank guter Kontakte im Umland, denn vor den Geschäften gibt es lange Schlangen. Gerade hätten sie von einem Bauern im rund 50 Kilometer entfernten Fastiw ein Schwein erworben, freut sich Gennady. „Wir haben also Fleisch und auch Benzin, es geht nicht schlecht“, sagt der ehemalige Polizist.
Gennady will sich nicht auf Spekulationen einlassen, was Putins Armeen mit Kiew genau vorhätten. „Ich bin Optimist und rechne damit, dass sich die Russen beim Vormarsch auf Kiew ermüden“, sagt der Zivilverteidiger. Die ukrainische Armee hat derweil ihrerseits alle Einfahrtstraßen in die Hauptstadt mit kleinen mobilen Einheiten abgesichert. Viele sind mit panzerbrechenden Javelin-Raketen aus den USA bewaffnet. Kleinere Seitenstraßen und selbst Waldwege werden laut Angaben eines polnischen Freiwilligen auf dem Nachrichtenportal onet.pl von internationalen Verbänden abgesichert.
Putin dachte, der Krieg dauere zwei Tage. Er hat seine Rechnung ohne den ukrainischen Wirt gemacht.
Die Taktik der Ukrainer ist offenbar, die Spitze jedes russischen Militärkonvois zu treffen, um so Panik auszulösen. Sodann werden die Zisternenwagen beschossen, und dann zieht sich die Einheit zurück. Dies hat offensichtlich den russischen Vormarsch auf Kiew in den letzten drei Tagen erheblich verlangsamt. Immer wieder werden Putins Truppen von den Versorgungslinien abgeschnitten. Bei der östlichen Vorstadt Browary, rund 20 Kilometer vom Kiewer Stadtzentrum entfernt, haben die Ukrainer am Donnerstag gleich mehrere russische Tanks vernichtet. Laut aufgeschnappten Funksprüchen ist die russische Führung geschockt, was die Kampfmoral der Angreifer massiv drückt.
Angriffe abgewehrt
Am Donnerstag und Freitag wurden auch russische Angriffe auf Wyschgorod, 18 Kilometer nördlich von Kiew, abgewehrt. Die Kiewer Vorstadt liegt direkt am Staudamm des sogenannten „Kiewer Meeres“. Würde er erfolgreich bombardiert, drohen den Kiewer Stadtteilen Obolon und Trajeschtschina die Überflutung. Inzwischen allerdings spricht erstmals auch der angesehene US-Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW) von der Möglichkeit, dass es die russische Armee wegen des massiven ukrainischen Widerstandes, dazu immer noch mit einer denkbar schwachen Luftwaffe auch aus der Luft, nicht schaffen könnte, Kiew gänzlich zu umzingeln.
„Putin dachte, der Krieg dauere zwei Tage. Er hat seine Rechnung ohne den ukrainischen Wirt gemacht“, freut sich derweil Gennady. Polen liegt ihm nah, er hat viele alte Freunde dort, doch zu den zwei Millionen Kriegsflüchtlingen will er nicht stoßen. Vielleicht würde er seine Tochter mit den Enkeln nach Polen schicken, aber noch sei es zu früh dafür. „Ich bleibe hier, ich verteidige mein Dorf und Kiew, ich gehe nirgendwo anders hin“, verspricht er.
De Maart
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