Dienstag28. Oktober 2025

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Ukraine-KriegSorge um ukrainische Atomreaktoren: NATO befürchtet Verschärfung der Lage

Ukraine-Krieg / Sorge um ukrainische Atomreaktoren: NATO befürchtet Verschärfung der Lage
Der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA, Rafael Grossi, gibt Erklärungen zu einem Brand in einem ukrainischen Atomkraftwerk Foto: Joe Klamar/AFP

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Wird Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zur atomaren Gefahr für die Welt? Feuer auf dem Gelände von Europas größtem AKW weckt längst vergessen geglaubte Ängste, auch wenn Experten beschwichtigen. Auf eine Flugverbotszone der NATO können die Ukrainer nicht hoffen.

Die Vereinten Nationen sprechen von einem Verstoß gegen das Völkerrecht, die Ukraine wirft Russland „nuklearen Terrorismus“ vor und Moskau gibt ukrainischen Saboteuren die Schuld: Ein nach Kämpfen ausgebrochenes Feuer an Europas größtem Kernkraftwerk in der Ukraine schürt die Furcht vor einer atomaren Katastrophe infolge des russischen Angriffskriegs. Zwar versicherten beide Konfliktparteien und auch internationale Experten, bei dem bald darauf gelöschten Brand sei keine Radioaktivität ausgetreten. Doch wächst die Sorge vor einer völlig unkontrollierbaren Eskalation des Kriegsgeschehens. Die NATO erwartet eine deutliche Verschärfung der Lage und erwägt eine erhebliche Aufrüstung im östlichen Bündnisgebiet. Eine Flugverbotszone, auf die viele in Bombenkellern festsitzende Ukrainer hoffen, schloss die Militärallianz aus.

Nach der Einnahme des AKW nahe der Großstadt Saporischschja durch russische Truppen war in der Nacht zu Freitag auf dem Gelände ein Brand ausgebrochen, laut ukrainischem Innenministerium im Gebäude eines Trainingskomplexes. Es wurde am Morgen gelöscht. Die ukrainische Aufsichtsbehörde, das russische Verteidigungsministerium und später auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) versicherten, es sei keine erhöhte Strahlung gemessen worden.

Mit bis zu 6.000 Megawatt ist das AKW das leistungsfähigste Europas. IAEA-Chef Rafael Grossi sagte in Wien, derzeit sei nur einer der sechs Reaktorblöcke in Betrieb. Alle Sicherheitssysteme seien unbeeinträchtigt, allerdings seien zwei ukrainische Sicherheitsmitarbeiter verletzt worden. Grossi schlug vor, dass Russland und die Ukraine unter seiner Schirmherrschaft am Gelände des 1986 explodierten ukrainischen Kernreaktors Tschernobyl über Sicherheitsgarantien für die ukrainischen Atomanlagen verhandeln.

Bei einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats überzogen sich die Vertreter der Ukraine und Russlands mit Vorwürfen. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kyslyzja warf Russland eine vorsätzliche Attacke auf das AKW und „nuklearen Terrorismus“ vor. Es handele sich nicht nur um einen Angriff auf die Ukraine, sondern auch auf Europa, die ganze Menschheit und künftige Generationen. Auch andere Sitzungsteilnehmer sprachen von einem Bruch des Völkerrechts.

Nach ukrainischer Darstellung waren die Reaktorblöcke von russischen Panzern beschossen worden. Dagegen beschuldigte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja eine „ukrainische Sabotagegruppe“, die nach einem Gefecht mit russischen Truppen das Feuer selbst gelegt habe. Von dem Kraftwerk, das nun unter russischer Kontrolle stehe, gehe keine Gefahr aus. Die Soldaten würden die Anlage sichern und sich nicht in die Arbeit der ukrainischen Arbeiter einmischen. Zudem sei „Personal mit einschlägiger Erfahrung hinzugezogen“ gezogen.

„Mehr Tod, mehr Leid und mehr Zerstörung“

Aus Sorge vor unbeabsichtigten Konfrontationen zwischen Einheiten der NATO und Russlands richtete das US-Verteidigungsministerium eine neue Hotline mit Moskau ein. Ziel sei es, Fehleinschätzungen, militärische Zwischenfälle und Eskalationen zu vermeiden. Die NATO selbst will keine Truppen in die Ukraine schicken, fürchtet aber, dass der Konflikt auf ihre Mitgliedstaaten übergreifen könnte. „Die kommenden Tage werden wahrscheinlich noch schlimmer sein, mit mehr Tod, mehr Leid und mehr Zerstörung“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel.

Aussicht auf ein baldiges Ende des russischen Angriffskriegs besteht kaum, zumal keine Konfliktpartei von ihren Forderungen abrücken will. Kremlchef Wladimir Putin ließ nach einem Telefonat mit Scholz wissen, vor Friedensgesprächen müssten zunächst „alle russischen Forderungen erfüllt werden“ – eine „Demilitarisierung“ und „Denazifizierung“ der Ukraine, ein neutraler, nicht-nuklearer Status des Nachbarlandes sowie die Anerkennung der Krim als russisches Territorium und eine Souveränität der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk.

Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak betonte, man werde keine harten russischen Forderungen erfüllen und „keinerlei Zugeständnisse eingehen, die auf die eine oder andere Weise unseren Kampf herabwürdigen, der heute in der Ukraine um ihre territoriale Unversehrtheit und die Freiheit geführt wird“. Schlechte Vorzeichen für die dritte Verhandlungsrunde, zu der Delegationen beider Seiten am Wochenende – vermutlich in Belarus – zusammenkommen wollen.

Die russischen Truppen setzen nach ukrainischen Armeeangaben ihren Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew fort. „Die Hauptanstrengungen der Besatzer konzentrieren sich auf die Einkreisung Kiews“, hieß es. Die Millionenstadt erlebte am Freitag mehrmals Luftalarm. Alle Bewohner sollten sich in Luftschutzbunkern in Sicherheit bringen.

Invasoren setzen offenbar Streubomben ein

Die NATO wirft den russischen Streitkräften den Einsatz von Streubomben und anderer Waffenarten vor, die gegen das Völkerrecht verstoßen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen prangerte an, auch zivile Ziele würden zunehmend mit Bomben und Raketen attackiert. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte, die russischen Truppen gingen vor, „als wollten sie die Ukraine zerstören“. Beschossen würden Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und andere zivile Infrastruktur.

Russland streitet den Beschuss ziviler Ziele kategorisch ab. Nach UN-Angaben war allein schon bis zur Nacht auf Freitag der Tod von 331 Zivilisten dokumentiert, darunter 19 Kinder. Zu befürchten sind noch höhere, schwer zu überprüfende Opferzahlen in der Zivilbevölkerung – zusätzlich zu den vielen getöteten Soldaten auf beiden Seiten.

Der UN-Menschenrechtsrat bestellte eine Untersuchungskommission, die Menschenrechtsverletzungen Russlands in der Ukraine untersuchen und dokumentieren soll. Sie soll auch Verantwortliche benennen, um sie vor Gerichten zur Rechenschaft ziehen zu können. Umgekehrt wirft Russland der ukrainischen Führung seit Jahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Donbass vor und hat dazu eine Materialsammlung mit teils kaum überprüfbaren Informationen zusammengestellt. (dpa)

Medienfreiheit wird eingeschränkt

Im Krieg gegen die Ukraine geht Moskau nun auch mit drakonischen Haftstrafen gegen missliebige Berichterstattung über die russische Armee vor. Präsident Wladimir Putin unterzeichnete gestern ein Gesetz, das bis zu 15 Jahre Haft bei „Falschnachrichten“ über die Armee vorsieht. Betroffen von dem Gesetz sind auch Ausländer. Die russischen Behörden schränkten außerdem den Zugang zu weiteren Medien ein. Neben Haftstrafen sieht das am Freitag vom Parlament verabschiedete Gesetz auch hohe Geldbußen für die „wissentliche“ Verbreitung von „Falschnachrichten“ über das russische Militär vor. Die Duma-Abgeordneten verabschiedeten zudem einen weiteren Gesetzentwurf, der Strafen für Medien und Einzelpersonen bei „Aufrufen zu Sanktionen gegen Russland“ vorsieht. Auch diesen unterzeichnete Putin noch am Freitag. Russische Medien waren nach dem Einmarsch in die Ukraine angewiesen worden, nur offizielle Informationen der russischen Behörden für ihre Berichterstattung zu verwenden. Begriffe wie „Angriff“ oder „Invasion“ im Zusammenhang mit dem Einmarsch in die Ukraine sind verboten. Die Behörden stellen den Angriffskrieg auf die Ukraine lediglich als „Sondereinsatz“ des Militärs und „Friedensmission“ zum Schutz russischsprachiger Ukrainer dar. Waleri Fadejew, Leiter des Kreml-Menschenrechtsrates, warf westlichen Medien vor, hinter „einem enormen Strom von Falschinformationen aus der Ukraine“ zu stecken. Die russischen Behörden schränkten am Freitag auch den Zugang zu den Websites der Deutschen Welle und weiterer unabhängiger Medien ein. Betroffen waren nach Angaben der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor neben dem deutschen Auslandssender auch die Websites des britischen Rundfunksenders BBC, der in Lettland ansässigen russisch- und englischsprachigen Nachrichtenwebsite Medusa und von Swoboda. Swoboda ist der russischsprachige Sender von Radio Free Europe/Radio Liberty, einem vom US-Kongress finanzierten Medium. (AFP)