Es sieht auf den ersten Blick aus wie eine Ferienreise. Kaum ist der hochmoderne ukrainische „Intercity-Plus“ aus Kiew mit über vierstündiger Verspätung am polnischen Grenzbahnhof Przemysl eingetroffen, öffnen sich die automatischen Türen und der Schaffner hilft beim Aussteigen. Schwere Koffer und Kinderwagen werden auf den Bahnsteig gehoben, es folgen Frauen und Kinder sowie ganz vereinzelt Großväter und Großmütter.
Die Passkontrolle ist schnell und betont freundlich. Ein Covid-Zertifikat muss man nicht mehr vorzeigen. „Das geht schneller“, sagt ein polnischer Grenzer. Das Gepäck wird oberflächlich kontrolliert. Die Zollbeamtin sucht kurz nach Wodka und Zigaretten. Und dann stehen die Flüchtlinge aus der Ukraine plötzlich am kaum beleuchteten Hinterausgang des Bahnhofs in der kalten polnischen Nacht. Volontäre versuchen sie hier abzufangen, bieten gratis Busfahrten nach Krakau, Wroclaw (Breslau) oder gar Warschau an. Viele der übermüdeten Ankömmlinge reiben sich ungläubig die Augen, glauben den Volontären nicht, und gehen stattdessen durch eine Unterführung ins Hauptgebäude.
Spielzeug für die Kinder
Dort hat die polnische Feuerwehr eine Mitfahr- und Übernachtungsbörse eingerichtet. Wer will, kann die Handynummer hinterlassen und auf einer Liste notieren, wohin wie viele Personen müssen, oder ob sie lieber erst in Przemysl übernachten wollen. Selbst Werbe-Visitenkarten von Arbeitsvermittlern liegen hier aus. In der Haupthalle des gleichzeitig noch funktionierenden Bahnhofs ist ein riesengroßer Essenstisch aufgestellt. In den Seitengängen verteilen orange gekleidete Feuerwehrleute warme Suppe und Mineralwasser, aber auch Windeln und Kinderspielzeug.
Die zehnjährige Kira hat ein Kissen in der Form einer Himbeere bekommen. Sie liegt auf einem gelben Feldbett in einer Nebenhalle und versucht einzuschlafen. Ihre Mutter wehrt entnervt den Pressefotografen ab. „Berichtet besser über diese unglaubliche Solidarität der Polen als über uns Flüchtlinge“, sagt sie. „Mein Hamster musste zu Hause bleiben, mein Vater auch“, berichtet Kira, die Tochter, die nun nicht mehr schlafen will.
Die Grenzbeamtinnen schaffen das große Reiseaufkommen einfach nicht, weder am Auto- noch am Fußgängerübergang
Unwillig erzählt nun auch die Mutter ihre Geschichte. Am ersten Kriegstag, Donnerstag, hätten sie bei jedem der drei Fliegeralarme bange Stunden im Kellerbunker in der Lemberger Altstadt verbracht, erzählt die IT-Supporterin. „Am Freitag entschied ich mich zur Flucht“, sagt die Mittdreißigerin, die ihren Namen nicht nennen will. Sie sei aufs Geratewohl zum Bahnhof von Lwiw gefahren, Fahrkarten hätte keiner mehr verlangt. Statt 350 Passagieren hatte der Zug Nummer 715 aus Kiew laut Schaffner etwa 700 nach Polen transportiert. Ihre IT-Firma hat für die beiden für eine Woche ein Hotelzimmer in Wroclaw (Breslau) reserviert. „Dort will ich eine Woche bleiben, dann fahren wir zurück, denn die Haustiere warten“, sagt die Mutter im Brustton der Überzeugung. In Polen war sie bisher noch nie. Um 4.10 Uhr will sie den Zug weiter nach Wroclaw nehmen, wohin ihre Firma gerade zumeist mit Bussen Hunderte von IT-Spezialisten aus Lwiw (Lemberg) evakuiert.
Busse stecken fest
Die meisten Reisebusse stecken derweil vor dem ukrainischen Straßenübergang Schehyni im mehrere Dutzend Kilometer langen Stau. 50 Stunden lang habe eine ältere Ukrainerin im PKW gebraucht, um von Lwiw ins rund 100 Kilometer entfernte Przemysl zu fahren, erzählt Andrei Wlozinski, ein Volontär der lokalen ukrainischen Minderheit der abgelegenen südostpolnischen Grenzregion. Sämtliche männlichen ukrainischen Grenzschützer sind laut Wlozinski noch am Freitag in die Armee eingezogen worden, um gegen die Russen zu kämpfen. „Die zurückgebliebenen Grenzbeamtinnen schaffen das große Reiseaufkommen einfach nicht, weder am Auto- noch am Fußgängerübergang“, erklärt Wlozinski.
Nur weg
Mindestens 116.000 Ukrainer sind in den ersten drei Kriegstagen laut Angaben des polnischen Grenzschutzes in Polen eingereist. Alleine am Freitag waren es 47.000 an den neun polnisch-ukrainischen Grenzübergängen. Weitere 25.000 ukrainische Flüchtlinge sollen Samstag in Moldawien und etwa ebenso viele in Rumänien eingetroffen sein. Moldawien ist rund 70 Kilometer von der ukrainischen Hafenstadt Odessa entfernt. Rumänien teilt über 550 Kilometer Grenze mit der Ukraine. Der slowakische Premierminister Eduard Heger kündigte an, 1.500 Soldaten an die 98 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine zu entsenden, um den ankommenden Flüchtlingen zu helfen. Ähnliches versprach auch Ungarn. In beiden Staaten trafen bis Sonntagmorgen Tausende von Flüchtlingen ein. Bislang seien wegen des russischen Kriegs gegen die Ukraine rund 300.000 Ukrainer in die EU gekommen. Der EU-Kommission zufolge sind bereits rund 300.000 Ukrainer in die EU gekommen.
Zwar hat Polen am Samstag alle acht Straßenübergänge in die Ukraine auch für Flüchtlinge zu Fuß geöffnet, doch auf der ukrainischen Seite kann sie niemand abfertigen. „Seit sieben Stunden lassen sie niemanden mehr durch, das Grenztor ist einfach geschlossen“, klagt unweit des polnischen Grenzübergangs Medyka ein ukrainischer Gastarbeiter aus Katowice, der seine Schwester abholen will. Seinen Opel hat er am Rand der Landstraße Nr. 28 geparkt. Das Internet ist hier wegen der großen Überlastung längst zusammengebrochen. „Wir haben nur noch Telefonkontakt, die Verwandten sagen, auf der anderen Seite warteten 10.000 Flüchtlinge auf Einlass“, erzählt der verzweifelte Mann.

Am Fußgängergrenzübergang selbst geht am späten Samstagabend gar nichts mehr. Auf der polnischen Seite herrscht ein enormes Gewusel, noch sind keine internationalen Hilfsorganisationen vor Ort, alles entsteht spontan und von unten, aus der polnischen und ukrainischen Gastarbeiter-Zivilgesellschaft. Aktivisten haben Hunderte Kilo Altkleider auf einer Wiese ausgelegt, jeder kann sich nehmen, was gebraucht wird. Freiwillige verteilen Tee, Mineralwasser, Esswaren, Decken und Windeln.
Freiwillig im Niemandsland
Wenige Schritte entfernt vom Niemandsland steht Shadzi, ein Freiwilliger der Botschaft von Bangladesch in Warschau, die auch für die Ukraine zuständig ist, und wartet auf Landsleute. „Ein paar Dutzend stehen in Schehyni an der Grenze und werden nicht weitergelassen“, klagt der Mann aus Bangladesch. Shadzi erzählt von Misshandlungen durch die ukrainischen Grenzbeamten, eine Bangladescherin sei mit blutigen Schrammen am Arm in Polen angekommen. „Sie lassen nur noch ukrainische Frauen und Kinder durch“, erzählt der Mann. Auf polnischem Territorium in unmittelbarer Grenznähe sind jedoch auffallend viele Schwarzafrikaner auszumachen. Sie irren durch die Nacht, zusammen mit den Ukrainern.

De Maart
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