In Moskau geht das Leben seinen Gang. Mütter bringen ihre Kinder in den Kindergarten, die Straßen sind verstopft wie eh und je, junge Skater drehen ihre Runden auf dem Manegeplatz, vor sich den Kreml. Über der Eisfläche am Roten Platz erklingen sowjetische Schnulzen. „Liebe Besucherinnen und Besucher, in zehn Minuten schließt das Eis für eine technische Pause“, hallt es zwischen Historischem Museum und der Basiliuskathedrale. Die Menschen schlendern über das graue und nasse Pflaster. Die Karussells drehen sich.

Maxim Popow zieht an seiner Zigarette. „Das, was in der Ukraine passiert, war zu erwarten“, sagt der 19-Jährige. „Wenn schon unsere Regierung sagt, dass es etwas nicht geben wird, gibt es genau das in ein paar Tagen auf jeden Fall. War schon immer so.“ Der Krieg? „Keine Überraschung. Weit weg. Ein Schritt, der nötig ist.“ Maxim Popow, der hochgewachsene Ex-Student, erklärt sogleich auch warum: „Selenskis Staat neigt dem Terrorismus zu, gerichtet gegen die russischsprachige Bevölkerung in seinem Land. Die diplomatischen Kanäle sind ausgeschöpft, und wir müssen schließlich unser Land unterstützen.“
Sie reden Putins Sätze nach
Es sind Sätze, die auch Russlands Präsident Wladimir Putin bei seinen Auftritten, in seinen Reden immer wieder sagt. Mit zusammengekniffenen Lippen, überzeugt von seinem Tun. Die Ukraine sei kein Staat, hatte er im vergangenen Sommer in einem Essay geschrieben, er hatte es an diesem Montag in seinem Wutausbruch wiederholt, danach unterschrieb er das Dekret zur Anerkennung der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Eine direkte Kriegserklärung an die Ukraine. „Es war nur noch eine Frage der Zeit“, sagt Maxim Popow. „Irgendwo bewundere ich Putin auch für seine Ehrlichkeit.“ Nur: „Leiden müssen Menschen, die nichts damit zu tun haben. Menschen, die weit weg sind, in Sibirien oder im Fernen Osten.“ Die Ukraine erwähnt Maxim Popow, selbst aus Sibirien, mit keinem Wort.
Putins Begriffe der ‚Entmilitarisierung und Entnazifizierung’ der Ukraine sind bereits in den Sprachgebrauch der Russen eingegangen, auch auf den Straßen Moskaus
Das russische Staatsfernsehen liefert Bilder von zerstörten Häusern und wegrennenden Menschen. Wann und wo sie aufgenommen wurden, wird dabei nicht klar. Es sei eine „gerechtfertigte Operation“, sagt ein Mitglied des russischen Föderationsrates in der Livesendung des Kanals Rossija-24. „In aller Ruhe“ werde Russland die Ukraine „entnazifizieren“, meint er. Putin hatte als Grund für die Invasion in die Ukraine – die er freilich nicht als solche bezeichnet – die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine genannt. In den Wortgebrauch der Russen sind diese Begriffe bereits eingegangen, auch auf den Straßen Moskaus.
„Beängstigend, was da passiert, es sieht so aus, als führe die Ukraine Krieg“, sagt Olga Putschkowa am Grab des Unbekannten Soldaten an der Kremlmauer im Alexandergarten, und nimmt ihre kleine Tochter aus dem Kinderwagen. „Wir werden alle leiden. Auch unsere Kleine. Und warum? Weil Selenski angefangen hatte, diesen Brei zu kochen, die Ukrainer gegeneinander aufzubringen.“ Was genau im Nachbarland passiere, wisse sie nicht, Informationen bekomme sie von Bekannten, aus dem Internet. „Wer gut und wer böse ist, verstehe ich längst nicht mehr“, sagt die 42-Jährige. „Aber ich“, mischt sich ihre Freundin Olga Silantjewa ins Gespräch ein. „Amerika ist an allem Schuld. Sie will uns kaputtmachen. Die Ukraine, ach, die hat doch eh nichts zu sagen. Wir müssen die Amerikaner aus Kiew vertreiben, deshalb schießen unsere Truppen auf die Stadt.“
Moskauer Parallelwelt
Beim Spaziergang durchs Zentrum entsteht der Eindruck, das Leben in Moskau spiele sich in einer Parallelwelt ab. „Krieg? Welcher Krieg denn?“, fragt ein Wachmann, zuckt mit den Schultern und schaut weiter einen Film in seinem Handy. Djamila, eine 22-Jährige, liest in einem Bus Nachrichten über Sanktionen gegen Russland und meint: „Aber zum Krieg wird es ja hoffentlich nicht kommen.“ Ein älterer Mann schreit auf dem Roten Platz: „Ein Bürgerkrieg herrscht dort in der Ukraine! Russland hat damit nichts zu tun!“ Es ist, als müssten sich die Menschen schützen vor den Nachrichten rund um sich herum, indem sie alles leugnen.

„Gott hat Russland mit allem ausgestattet, was wir brauchen“, sagt ein Abgeordneter im Staats-TV. Eine andere Parlamentarierin meint: „Es hat sich doch nichts geändert. Die Ukraine greift an.“ Das Problem sei nicht Russland, das Problem sei die Ukraine, versucht ein kremlloyaler Politologe im Staatsfernsehen nahezubringen. „Ich weiß gar nicht mehr, was wir glauben sollen. Ich bin einfach nur schockiert“, sagt eine junge Frau in Moskau. Eine ältere fragt: „Soll ich mich mit Salz, Zucker und Streichhölzern eindecken?“
Verzweiflung bei den Vernünftigen
Der Chefredakteur des unabhängigen Online-TV-Senders „Doschd“ kann in seiner Livesendung kaum die Tränen zurückhalten. „Wir müssen mit unserem Alarmismus weitermachen, es ist wohl die einzig vernünftige Position heute“, schreibt er später in seinem Telegram-Kanal. Ein Moskauer Unternehmer sagt: „Entschuldige uns, Westen! Wir sind so dumm.“ Eine Feministin schreibt: „Ich bin so wütend. Wie soll ich meinem fünfjährigen Sohn erklären, dass unser geliebtes, schönes Land seinen Nachbarn überfällt? Ich habe das alles nicht gewählt!“ Die russische Schauspielerin Lia Achedschakowa spricht bei „Doschd“ von einem „Meer an Lügen und schmutzigen Tricks“ des Kremls und ruft die Kulturschaffenden des Landes zum Widerstand auf. Sie klingt verzweifelt.
Die meisten Menschen im Land hören solche Worte nicht. „Wir Russen verstehen einfach nicht, was Putin will. Er drangsaliert uns, lässt uns nicht normal leben. Nun will er offenbar auch andere knechten“, sagt Marat Chamassow am Roten Platz. Vom Angriff Moskaus auf die Ukraine hat er nichts gehört. „Ich schaue keine Nachrichten, grundsätzlich nicht.“ Der 39-Jährige will an diesem Vormittag mit seiner Frau Sina ein paar Sehenswürdigkeiten in der Stadt anschauen. Aus Tatarstan sind sie hierhergekommen – ein Abschied. Bald soll es für die sechsköpfige Familie nach Polen gehen. „Weg aus diesem Land, das wir längst nicht mehr verstehen.“
De Maart
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