Montag27. Oktober 2025

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RusslandPutins Prolog zum großen Krieg – was die Rede des Kreml-Chefs wirklich bedeutet

Russland / Putins Prolog zum großen Krieg – was die Rede des Kreml-Chefs wirklich bedeutet
Putin hat bei einer Fernsehansprache die Staatlichkeit der Ukraine als Ganzes infrage gestellt, zudem hat er die beiden Regionen Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige „Volksrepubliken“ anerkannt Foto: dpa/Sputnik/Aleksey Nikolskyi

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Russland erkennt die Separatistengebiete in der Ostukraine an. Die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor seiner Unterschrift ist wirr und bizarr. Und sie ist in der Tat historisch. Was sie bedeutet.

Die Lage in der Ostukraine verschärfe sich, man müsse handeln. Ganz schnell. So raunt es durch Moskau an diesem Montag. Das Staatsfernsehen sendet Bilder von weinenden Kindern, die mit Sack und Pack ihr Zuhause haben verlassen müssen, geflohen mit Müttern und Großmüttern, geflohen „vor Schüssen, vor Bomben“, vor der Regierung in Kiew, die „ihre eigenen Leute quält“, heißt es quer durch die Sendungen. Das Eilige, Plötzliche, Unerwartete, das der russische Staat da an den Tag zu legen versucht, stellt sich bereits nach kurzer Zeit als eine lang geplante Operation heraus. Eine Schmierenkomödie nach Kreml-Art, die wie nie zuvor den russischen Feldzug gegen einen Nachbarstaat offenlegt, dem Moskau die Staatlichkeit aberkennt.

„Eine seit Langem überfällige Entscheidung“, nennt Putin die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine. Knapp eine Stunde lang verliert er sich in seiner wahrhaft historischen Rede – im Fernsehen übertragen – in hanebüchenen Details. Alle sollen es hören, was der aufgebrachte und aufgedunsen wirkende Mann, fast wie ein Besessener, seinem Volk – und nicht nur ihm – mitzuteilen hat mit seinen Ansichten, die er als das einzig Wahre verkauft. Die moderne Ukraine, führt Putin aus, sei eine Erschaffung Russlands. „Des bolschewistischen, des kommunistischen Russlands“, fügt er hinzu, hält sich an seinem Tisch fest und poltert weiter. Vor sich die Telefone, hinter sich die russische Flagge. Die Ukraine sei ein Produkt Lenins, ein Geschenk der Sowjetunion, mit dem all ihre ukrainischen Führungspersonen nichts anfangen hätten können. Eine „Kolonie mit Marionetten-Regime“ nennt Putin die jetzige Regierung in Kiew.

Ein tief schnaufender Präsident

Seine Ausführungen, emotional, teils tief schnaufend vorgetragen, sollen erklären, dass Russland, dieses vermeintlich vom Westen tief bedrängte und stark bedrohte Land, gar keine andere Wahl gehabt habe, als „diesen Weg des Friedens“ zu gehen und den „Gequälten und Geschundenen“ in der Ostukraine beizustehen. Der russische Präsident sagt tatsächlich: „Russland hat alles getan, um die territoriale Integrität der Ukraine zu bewahren.“

Bereits am Abend danach überqueren russische Truppen die Grenze zur Ukraine, um – so nennt es Moskau – die „Sicherheit in den Volksrepubliken zu gewährleisten“. Der Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit, den Putin mit den „Oberhäuptern“ der beiden „Volksrepubliken“ kurz zuvor unterschrieben hat, hat eine Klausel zum „militärischen Beistand“. Damit könnte Russland, wie bereits in den von Georgien abtrünnigen und von Russland ebenfalls anerkannten Gebieten Abchasien und Süd-Ossetien Tausende Soldaten in der Ostukraine stationieren. In den Separatistengebieten gibt es in der Nacht Feuerwerke. In Moskau können es auch am Tag danach viele Menschen nicht fassen, was ihr Präsident da von sich gegeben hat. „Warum? Wofür? Und wir müssen jetzt leiden.“ Putins Rede ist selbst an der Supermarktkasse das alles dominierende Thema. Andere freuen sich: „Endlich haben wir es den Amerikanern gezeigt.“

Für Putin gibt es ein Land wie die Ukraine nicht

Für Putin gibt es ein Land wie die Ukraine nicht. Sein Auftritt zeigt dessen moralische Vernichtung eines Staates, den Russland nie verstanden hat. Damit führt der Kremlherrscher seine Gedanken, die er bereits im vergangenen Sommer in einem Essay niedergeschrieben hatte, fort. In seinem knapp 40.000 Zeichen langen Werk hatte Hobbyhistoriker Putin damals zwölf Jahrhunderte osteuropäischer Geschichte umspannt. „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ hatte er den wichtigsten Abschnitt darin genannt, auf der Kremlseite findet sich das Dokument in russischer wie ukrainischer Sprache. Immerhin die Sprache scheint er als Bestehendes wahrzunehmen. „Doch gibt es die Ukraine wirklich?“, fragt er darin und liefert die Antwort: nein. Seine Formel: Großrussen, Kleinrussen (Ukrainer) und Belarussen seien ein einziges, ein „dreieiniges“ russisches Volk und nicht voneinander zu trennen. Alles andere sei eine „Erfindung ohne historische Basis“.

Was Putin schon in seinen damaligen Ausführungen negiert, ist die Tatsache, wie Historiker einen modernen Nationalstaat definieren: als „imaginierte Gemeinschaften“. Manche entstehen früher, andere entstehen später. Die Ukraine ist spät entstanden. Im Zuge der Februarrevolution 1917 hatten sich in Kiew Vertreter aus Politik, Kultur und Berufsverbänden für eine provisorische – ukrainische – Regierung ausgesprochen. Im November 1917 wurde die Ukrainische Volksrepublik ausgerufen, die nach dem Einmarsch der Roten Armee 1920 schon wieder Geschichte war. Die Ukraine wurde schließlich ein Teil der Sowjetunion und 1991, nach dem Zerfall dieser, wieder unabhängig. Schon bei der Auflösung des Sowjetstaates hätten die Grenzen der Ukraine „reduziert“ werden müssen, schreibt Putin in seinem Opus. Darauf weist er auch nochmals in seiner Montagsrede hin.

Eine Gefahr für die Menschheit?

Lenin habe eben Fehler gemacht, ohne an die Zukunft zu denken. Die Bolschewiki hätten sich dann mit allen Mitteln an der Macht halten wollen, deshalb dieser „Wahnsinn“, der so viele Nationalisten in der heutigen Ukraine gebäre. Was das alles miteinander zu tun hat, versteht selbst in Russland niemand so recht. Aber Putin fährt fort mit seinem merk- wie denkwürdigen Exkurs. Die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1990er Jahren wiederum sei ein „Fehler“ der Kommunistischen Partei unter Michail Gorbatschow gewesen. Fortan habe die Ukraine „mechanisch fremde Modelle kopiert“, die ihr „Radikale“ diktiert hätten. Sogar eine Atombombe könnten die Ukrainer bauen, „noch mit sowjetischem Können“, gibt sich Putin warnend. Das sei eine Gefahr für die Menschheit. Ohnehin drangsaliere Kiew sein Volk mit hohen Gaspreisen, verletzte die Menschenrechte, verfolge die Opposition, begehe „Genozid“ an der russischsprachigen Bevölkerung. Das ist Putins gern gebrauchter Begriff, um zu zeigen, wie schlimm es um die Ukraine angeblich stehe und wie gut es sei, dass das Land Russland als Nachbarn habe.

Es ist eine verkehrte Welt. Eine, die allerdings bei vielen Russen greift. Die staatliche Propaganda tut seit Jahren Enormes, um die Bedrohung durch die NATO, die in Putins Augen auch Kiew mittrage, zur realen Angst der Menschen zu machen.

Bizarre Sitzung des nationalen Sicherheitsrates

Putins „Geschichtsstunde“ geht eine ebenfalls bizarre Sitzung des nationalen Sicherheitsrates voraus. Sie wird als live verkauft, die Uhr des russischen Verteidigungsministers Sergej Schojgu zeigt allerdings fünf Stunden vorher an. Die Sitzung wirkt wie ein versuchtes Theaterstück von Zweitklässlern: Nacheinander treten die Mitglieder des Rates – Russlands Außenminister Sergej Lawrow, Russlands Verteidigungsminister Sergej Schojgu, Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew, Russlands Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin, Russlands Vorsitzende des Föderationsrates Walentina Matwijenko und andere – an das Redepult im prächtigen Katharinensaal des Kremls und flehen Putin geradezu an, die „Volksrepubliken“ anzuerkennen. „Die Zeit ist gekommen, Aufschub nicht mehr möglich“, beschwört Matwijenko. Äußerst peinlich: Sergej Naryschkin, seines Zeichens Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, einer der engsten Berater Putins. Er stockt, er weiß nicht recht, was er sagen soll, ähm, hmm, ja. Er verspricht sich und sagt gar den Satz, dass er sich für den Anschluss des Donbass an Russland ausspreche. Putin lächelt, Putin herrscht ihn an: „Darum geht es nicht. Setzen Sie sich!“ Der Oberlehrer weiß ohnehin alles besser.

Putins „Geschichtsstunde“ ging eine ebenfalls bizarre Sitzung des nationalen Sicherheitsrates voraus
Putins „Geschichtsstunde“ ging eine ebenfalls bizarre Sitzung des nationalen Sicherheitsrates voraus Foto: AFP/Sputnik/Aleksey Nikolskyi

Vorerst geht es in der Tat nicht „darum“, die Rede Putins legt allerdings nahe, dass die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine lediglich die Vorstufe zum Anschluss sein dürfte. Es war bereits bei der Krim 2014 ähnlich.

Dann wird es gespenstisch

Unklar bleibt nach der Unterzeichnung des Dokuments, das das russische Parlament mit 100-prozentiger Zustimmung und stehenden Ovationen am Dienstag ratifiziert hat, ob Russland die „Volksrepubliken“ in seinen ursprünglichen Grenzen der Regionen Luhansk und Donezk anerkennt. Damit also auch die Gebiete, die derzeit von der Ukraine kontrolliert werden. Denis Puschilin, das vierschrötige „Oberhaupt“ in Donezk, bekräftigt diese Version. Der Kreml gibt sich widersprüchlich.

„Warum macht man aus uns einen Feind?“, fragt Putin – und antwortet sogleich selbst: „Sie brauchen solch ein großes und selbstständiges Land wie uns nicht.“ „Sie“, der Westen, Putins offensichtliches Trauma, das die russische Führung stets beleidigt und nicht erst genommen auftreten lässt. In dieser Rolle des „Obischenny“ – der Begriff des „Gekränkten“ ist ein sehr russischer, täglich gebraucht für jegliche auch noch kleinste Kritik an einem selbst – fährt Putin mit der Anklage seines Lieblingsfeindes fort. „Das treibt Amerika an. Ihr einziges Ziel ist es, uns zu bezwingen.“ Es ist gespenstisch. Und es ist Putins Prolog zu einem großen Krieg.

300tdi
22. Februar 2022 - 14.33

Den „gudden“ Mann do, ass mindestens genau sou krank wéi den „orangen“ Mann déi aner Säit vum Atlantik. Bal net méiglech!