„The Plains“ von David Easteal (Tiger Competition – 180′)

Poesie der Zwischenräume: Es ist kurz nach 17 Uhr. Ein Mann steigt in sein Auto und macht sich auf den Weg nach Hause. Er hört Radio, telefoniert mit seiner Mutter, später mit seiner Frau. Schnitt. Es ist kurz nach 17 Uhr. Der gleiche Mann steigt in sein Auto, dieses Mal mit einem Kollegen, dem Ersterer eine Mitfahrgelegenheit anbietet. Kurze Telefonate mit Mutter und Frau. Die beiden plaudern. Schnitt. Es ist kurz nach 17 Uhr …
Von den drei Stunden, die man mit diesem Mann, Andrew, verbringt, sitzt man zum größten Teil auf dem
Rücksitz seines Pkws. Fast ein Jahr lang begleitet man ihn mithilfe einer einzigen Kameraeinstellung, die Andrew und gelegentlich David – den Regisseur – aus der Froschperspektive im Rücken und Genick einfängt. Der Rückspiegel bietet hie und da einen Augenkontakt, ansonsten rast man durch den Melbourner Berufsverkehr und beobachtet, wie die Jahreszeiten wechseln, die Sonne steht, und wie grau oder blau der Himmel ist. In diesem toten Zwischenraum und seiner ebenfalls toten Zwischenzeit entfaltet der Film eine Poesie der Alltäglichkeit, die einen überraschenden Sog mit sich bringt und einen in das undramatische Geschehen mit hineinzieht. Und wenn man als Kontinentaleuropäer den Linksverkehr und die umgekehrten australischen Jahreszeiten erst mal verinnerlicht hat, berühren einen Andrew, Mutter Inga und Frau Cheri am Telefon und David auf dem Beifahrersitz sehr.
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„Yamabuki“ von Juichiro Yamasaki (Tiger Competition – 96′)

Die titelgebende Yamabuki-Pflanze ist im japanischen Kulturkreis von enormer Wichtigkeit. Regisseur Juichiro Yamasaki erzählt mit seinen grobkörnigen 16-mm-Bildern eine Geschichte, die so auch nur in der Region entstehen könnte, in der sie sich abspielt. Yamasaki – übrigens in gleichem Maße in der Landwirtschaft wie im Kino beschäftigt – erdet sein Ensemble an Figuren im japanischen Westen und erzählt von Entwurzelung und dem Versuch, im Leben Fuß zu fassen. Sein leiser „film choral“ bleibt trotzdem ein kühles Unterfangen, bleibt sehr auf Distanz und macht es dem Zuschauer mitunter schwer, in die Geschichte einzutauchen. Yamasaki scheint selbst nicht ganz zu wissen, wie das Sammelsurium an Geschichten und Figuren zu balancieren ist. Der Handlungsstrang um den ehemaligen südkoreanischen Reitsportler Chang-su, der in Japan versucht, neuen Lebensmut zu finden, ist weitaus interessanter als z.B. der der Figur, die den Namen der Pflanze und des Films trägt.
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„Else transportan a morte“ (They Carry Death) von Samuel M. Delgado und Helena Girón (Bright Future – 75′)

Kolumbus hatte schon bessere Tage: Im Atlantischen Ozean stranden drei Männer auf einer menschenleeren Insel. Sie haben bis auf ein Schiffssegel nichts bei sich. Es stellt sich heraus, dass die drei die Expedition von Kolumbus 1492 verließen und von Bord gingen. Ohne das Segel können die Eroberer nicht weiterreisen und verfolgen die Ausgebüxten. Währenddessen, in der Alten Welt, versucht eine Frau das Leben ihrer Schwester zu retten. Das Regieduo Delgado/Girón zeigt, was bei Terrence Malick schon längst von einer reaktionären Christlichkeit verdrängt wurde: Geschichten von Figuren, die der Erde und ihrer unerbittlichen Natur, aber auch den größeren historischen Umständen, ausgeliefert sind. Der revisionistische Aspekt des Films ändert daran an sich nichts. Mit den Figuren unterwegs in der Neuen Welt sowie auf dem alten Kontinent, ist „They Carry Death“ die Geschichte der traurigen Zäsur, die die Entdeckung Amerikas mit sich brachte. Bilder und Stimmungen erzählen mehr als Worte.
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„Lucie perd son cheval“ von Claude Schmitz (Bright Future – 81′)

Wenn Covid zu Cervant’schen Windmühlen wird: Die junge Mutter und Schauspielerin Lucie – gespielt von Lucie Debay, die man hierzulande zuletzt in „Une vie démente“ sehen konnte, oder auch vor Jahren in der luxemburgischen Koproduktion „Melody“ – lässt ihre Tochter zurück, um sich einem Arbeitsprojekt zu widmen. Dafür hat sie sogar Schwertunterricht genommen. Kurz danach ist sie mit ihrem Pferd und Ritterkostüm unterwegs, verliert aber das Pferd bei einem Nickerchen. Sie trifft unterwegs weitere reitende Ritterinnen, die ebenfalls ihre Huftiere verloren haben. Plötzlich finden sich die drei Frauen schlafend auf einer leeren Theaterbühne wieder. King Lear sollte hier geprobt werden, aber solange die Mütter/Ritterinnen/Schauspielerinnen schlafen, wird das nichts. Eines vorweg: „Lucie perd son cheval“ ruft Stirnrunzeln hervor. Was ist eine Mutter ohne ihr Kind? Eine Ritterin ohne ihr Pferd? Ein Schauspielerin ohne ihr Publikum? Mit Antworten auf solcherlei Fragen tut sich Regisseur Claude Schmitz schwer, besonders wenn er sie mit der Covid-Situation und ihren Auswirkungen auf den Menschen und die darstellenden Künste zusammenzubringen versucht. Der magisch-realistische Effekt verleiht dem kleinen Film seinen Charme, kann ihn letztlich aber nicht auf seinen Schultern tragen.
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