Nicht erst seit Trump und seiner „Build the Wall“-Rhetorik ist bekannt, dass die Grenze, die Mexiko und die Vereinigten Staaten trennt, ein Tummelplatz für kriminelle Aktivitäten und Tragödien ist. Amerikanische sowie mexikanische Filmemacher hat es über die Jahre immer wieder mit ihren Narrativen in die Region gezogen. So auch die mexikanische Regisseurin Fernanda Valadez und ihr Spielfilmdebüt „Identifying Features“ – ein Kleinod, das einen längeren Festivalsweg gegangen ist. Und der sticht vor allem auf eine nüchterne Art und Weise und durch seinen Blickwinkel auf die Situation an der Grenze hervor. Wie so oft, wenn eine Frau im Regiestuhl sitzt.
Magdalena ist auf der offenbar verzweifelten Suche nach ihrem Sohn Jesús. Dieser hatte einige Wochen zuvor mit einem Freund entschieden, den Weg in Richtung USA anzutreten. Weil seither aber jedes Lebenszeichen von ihm ausbleibt, entscheidet die besorgte Frau, zusammen mit der Mutter des Freundes eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Bei der Polizei stellte sich heraus, dass die Leiche des Freundes gefunden wurde. Die einzige Spur von Jesús ist ein Foto seines von Magdalena gepackten Rucksacks. Diese verbietet sich jedoch, um ihren wahrscheinlich gestorbenen Sohn zu trauern, und begibt sich auch Richtung Norden an die Grenze. Sie trifft dort den jungen Miguel, der mangels Papieren aus den Vereinigten Staaten wieder ausgewiesen wurde und den umgekehrten Weg geht, um seine Mutter wiederzufinden.
70.000 Verschollene in 15 Jahren
Die Regisseurin Fernanda Valadez interessieren weniger die soziopolitischen Umstände in Zusammenhang mit der hoffnungslosen Situation in der nördlichen mexikanischen Grenzregion als das Schicksal der direkt Betroffenen. In diesem Fall natürlich das der Mütter der Verschollenen, die sich über die Jahre zu Tausenden dort angesammelt haben. 70.000 Menschen sind dort in den letzten 15 Jahren verschwunden.
Valadez, Co-Autorin Astrid Rondero und Kamerafrau Claudia Becerril Bulos gehen mit der Hauptfigur Magdalena auf eine nicht sehr vielversprechende Reise und filmen während dieser immerfort ihr Gesicht. Wenn Magdalena – von der Schauspielerin Mercedes Hernández gespielt – in Institutionen oder Behörden nach Informationen fragt und immer wieder in einer weiteren Sackgasse zu landen scheint, bleibt die Kamera auf sie gerichtet und bietet so dem korrupten System nicht die einfache Personifikation mit dem Gegenschuss.
Schuss-Gegenschuss
Schuss-Gegenschuss (engl. Shot-Reverse-Shot) ist eine gängige Filmschnitt-Technik. Sie wird oft in Dialogsituationen verwendet. Dabei werden die Darsteller während ihres Dialoges alternierend gezeigt. So spricht der erste Darsteller („Schuss“), daraufhin wird die Reaktion des zweiten Darstellers gezeigt („Gegenschuss“).
Eine ausgeblutete Grenzregion
Dieses Draufhalten mag die expositorischen Erklärungen eines gesellschaftlichen Kontextes vermissen lassen und trotzdem schöpft „Identifying Features“ gerade aus der inneren Psychologie seiner Figur seine Kraft. Ihre Rolle spielt Hernández mit einer naiven und gleichzeitig tiefgründigen Attitüde – fast schon, als ob sie das erste Mal vor einer Kamera stünde. Dabei war sie letztens in Michel Francos pechschwarzem „Nuevo Orden“ zu sehen.
Und mit den von der Sonne ausgebleicht scheinenden Ocker- und Brauntönen verschärfen die Bilder von Becerril Bulos sowieso den Eindruck, dass die Grenzregion von Kartellaktivitäten auf der einen und politischen Entscheidungen auf der anderen Seite auf allen Ebenen entvölkert wurde.
„Sin señas particulares“, so der spanische Originaltitel, heißt der Film, der in seinem internationalen Titel das „Ohne“ bei den identifizierenden Merkmalen wegfallen lässt. Der Film scheint in seiner Figurenkonstellation auf ein versöhnliches Ende hinstreben zu wollen, doch der letzte Akt unterstreicht die Bedeutung des Filmtitels als auch psychologisch und nicht auf Magdalena begrenzt. Und dass es dort an der Grenze Mexikos eben keine einfachen Erkennungsmerkmale mehr gibt.
Wann kann man den Film sehen?
Donnerstag, 6. Januar 2022, um 18.30 Uhr: „Sin señas particulares“ (Identifying Features) (2020) von Fernanda Valadez, mit u.a. Mercedes Hernández und David Illescas. Publikums- sowie Jurypreis für das Drehbuchdes „World Cinema Dramatic“-Wettbewerbs im „Sundance Film Festival“ 2020.
De Maart
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