Allerdings befand sich das Nationale Gesundheitssystem NHS am Donnerstag bereits kurz vor der Auslastung, waren kaum noch Intensivbetten frei. Schon haben Nordirland, Schottland und Wales neue Restriktionen erlassen oder angekündigt; Premierminister Boris Johnson hingegen schickt die Menschen im weitaus größten Landesteil England lediglich mit Mahnungen sowie dem üblichen Impfappell in die Weihnacht.
Wer sich mit Freunden und Verwandten treffe, solle zuvor einen der kostenlos erhältlichen Anti-Gentests machen, hat der Regierungschef den Bürgern ans Herz gelegt. Das schönste Weihnachtsgeschenk, das man sich selbst machen könne, sei „die Booster-Impfung“. Was das Infektionsgeschehen angeht, so behalte die Regierung die „extrem schwierige Situation“ genau im Auge, beteuerte der durch allerlei Skandale geschwächte Premierminister: „Sollte sie sich verschlechtern, werden wir handeln.“
Vieles deutet darauf hin, dass die Bevölkerung vielerorts selbst die Initiative ergreift. Reihenweise sagten Betriebe und Familien ihre vorweihnachtlichen Feiern ab. Im normalerweise hochfrequentierten Restaurant „Cote“ gegenüber dem Barbican-Zentrum im Herzen der City wirkten die wenigen Dinner-Gäste vereinsamt. Das traditionsreiche Singen am Weihnachtsbaum auf dem Trafalgar Square zugunsten wohltätiger Zwecke wurde, wiewohl im Freien, abgesagt.
Die fürs Gesundheitswesen in den kleineren Regionen Verantwortlichen halten ebenfalls nichts vom Abwarten; der Ministerpräsident von Wales, Mark Drakeford (Labour), beschuldigte die Londoner Zentralregierung sogar der „Lähmung“. Die Waliser sollen sich über die Weihnachtstage möglichst nur im Freien treffen oder ihre Wohnzimmer kräftig lüften; zudem soll zwischen privaten Feiern „ein Testtag“ eingelegt werden. Von Montag an bleiben alle Nachtclubs geschlossen, in Geschäften und Büros gilt wieder die Zwei-Meter-Abstandsregel. Ähnliches gilt für Schottland. Dort hat Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon die zentrale Silvesterfeier Hogmanay in Edinburgh abgesagt. Die traditionellen Fußballspiele am zweiten Feiertag müssen vor leeren Stadien ausgetragen werden.
Während die Besorgnis vorherrscht, legen mehrere Analysen den erfreulichen Schluss nahe, die Mutation B.1.1.529 könne zu weniger Corona-Erkrankungen führen, die einen Krankenhaus-Aufenthalt notwendig machen, als die bisher vorherrschende Delta-Variante. Einer südafrikanischen Studie an 160.000 Patienten zufolge lag die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung um 80 Prozent niedriger; in Schottland lag dieser Prozentsatz bei 65, in England bei 40 Prozent. Die beiden britischen Studien basieren auf winzigen Personengruppen, sind aber statistisch so korrigiert, dass die deutlich ältere und gesundheitlich vorbelastete Bevölkerung berücksichtigt wird.
Eine Million Dosen täglich verabreicht
Alle Autoren der diversen Analysen warnen vor voreiligen Schlüssen. Es handele sich aber doch „um tendenziell gute Nachrichten“, urteilte Professor Neil Ferguson vom Londoner Imperial College. Wissenschaftler derselben weltberühmten Universität hatten noch zu Monatsbeginn vor einer gewaltigen Omikron-Welle mit Tausenden von Toten täglich gewarnt.
Unterdessen läuft das Impfprogramm auf Hochtouren weiter. Seit Samstag wurden auf der Insel täglich mehr als eine Million Dosen verabreicht, die überwiegende Mehrzahl davon waren Drittimpfungen. Bis Dienstag hatten der Zählung des Gesundheitsministeriums zufolge 53,6 Prozent der Bevölkerung über zwölf Jahren ihren Booster erhalten.
Premier Johnsons Versprechen, bis Jahresende werde jedem Erwachsenen die dritte Dosis angeboten werden, dürfte zwar nicht einzuhalten sein; doch haben die langen Schlangen vor den Impfzentren in den vergangenen Tagen bewiesen, dass der Appetit auf die medizinische Immunisierung ungebrochen ist. Zudem stößt das Virus mittlerweile vielerorts auf Genesene mit reichlich Antikörpern gegen Sars-CoV-2.
Weicht die Omikron-Variante vor dieser Herdenimmunität zurück? Für die Verantwortlichen in der Politik und im Gesundheitswesen dürfte dies der wichtigste Weihnachtswunsch 2021 sein.
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