Seit der Machtübernahme der Taliban im August haben die Vereinten Nationen glaubwürdige Berichte über mehr als 70 außergerichtliche Tötungen durch die neuen Machthaber in Afghanistan erhalten. Zwischen August und November habe es mehr als 100 Morde an ehemaligen Sicherheitskräften und anderen mit der früheren Regierung in Verbindung stehenden Personen gegeben, sagte am Dienstag die stellvertretende UN-Menschenrechtskommissarin Nada Al-Nashif. Mindestens 72 davon könnten den Taliban zugeordnet werden. Die Taliban bestritten die Berichte und verwiesen auf die von ihnen versprochene Generalamnestie.
„In mehreren Fällen wurden die Leichen öffentlich zur Schau gestellt. Dies hat die Angst in dieser großen Bevölkerungsgruppe noch verstärkt“, sagte Al-Nashif vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf. Sie sprach auch die gravierende humanitäre Krise in dem Land an: Viele Menschen seien „zu verzweifelten Maßnahmen“ gezwungen, um ihr Überleben zu sichern, darunter Kinderarbeit und sogar „der Verkauf von Kindern“.
Der Sprecher des Außenministeriums der Taliban, Abdul Kahar Balkhi, erklärte am Dienstag, die Regierung stehe hinter ihrem Amnestie-Erlass. Mitarbeiter der bisherigen Regierung würden von den Taliban nicht verfolgt. Jeder, der gegen die Amnestie verstoße, werde strafrechtlich verfolgt und bestraft. „Die Vorfälle werden gründlich untersucht, aber unbegründete Gerüchte sollten nicht für bare Münze genommen werden.“
Anfang Dezember hatte bereits Human Rights Watch auf dutzende Hinrichtungen hingewiesen, die die Organisation dokumentiert hatte. Bei den Opfern handelte es sich ebenfalls um ehemalige Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte, andere Militärangehörige, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter. Das Innenministerium der Taliban wies die Anschuldigungen damals zurück. „Diese Berichte und Behauptungen beruhen nicht auf Beweisen“, sagte ein Ministeriumssprecher.
US-Drohnenangriff
Derweil teilte das US-Verteidigungsministerium mit, dass die Verantwortlichen für einen US-Drohnenangriff in Kabul Ende August mit zehn getöteten Zivilisten nicht bestraft werden. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin billigte nach Angaben seines Sprechers einen Bericht der Armeeführung, in dem keine disziplinarischen Maßnahmen gegen die verantwortlichen Soldaten empfohlen werden. Bei dem Drohnenangriff auf ein Auto waren zehn Menschen getötet worden, unter ihnen sieben Kinder.
Die Taliban waren im August rund 20 Jahre nach dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan wieder an die Macht gekommen. Sie bemühen sich seitdem um die internationale Anerkennung ihrer Regierung sowie um humanitäre Hilfe, um eine Hungerkatastrophe in dem von ausländischen Entwicklungsgeldern abhängigen Land zu verhindern.
Wie das UN-Welternährungsprogramm mitteilte, nehmen derzeit 98 Prozent der Afghanen nicht genügend Nahrung zu sich, das ist ein Anstieg um 17 Prozentpunkte gegenüber August. Nach Angaben der Vereinten Nationen werden über 23 Millionen Afghanen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung – in den Wintermonaten mit einer „akuten“ Nahrungsmittelknappheit konfrontiert sein. (AFP)
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